Es war einmal eine Zeit, da waren Nordamerika und Asien einander nahe. Verbunden durch die riesige steppenartige Landbrücke Beringia.
Als sich das Klima am Ende der letzten Eiszeit vor etwa 15’000 Jahren erwärmte, schmolzen die Gletscher, das Land wurde überflutet und mit ihm die Migrationspfade der Megafauna. Mammuts, Riesenbären, Höhlenlöwen und andere Tiere wie das Pferd – eines der ikonischsten Tiere Amerikas – waren ausgebremst. Das zeigt die erste grosse Genanalyse von Pferdefossilien.
SRF Wissen: Ihre Studie basiert auf moderner Hightech-Forschung und indigenem Wissen. Sie widerlegt erneut das verbreitete Narrativ, wonach die Europäer das Pferd nach Amerika brachten.
Ludovic Orlando: Richtig. Die Pferde migrierten ursprünglich von Eurasien nach Nordamerika und wanderten während Jahrtausenden zwischen den Kontinenten hin und her. Das Gebiet der Arktis zwischen Ural und Alaska war eine urzeitliche Pferdeautobahn. Man wusste von dieser Migrationsroute, dachte aber, nach der Überflutung der Landbrücke seien die Pferde in Amerika ausgestorben.
Sie sagen, «man dachte». Sind die Pferde denn nicht ausgestorben?
Die Aussterbe-These stammt von Vertretern westlicher Wissenschaften. Denn es gibt kaum Pferdefossilien, die älter sind als 13’000 Jahre. Das bedeutet aber nicht zwingend, dass die amerikanischen Pferde damals verschwanden.
Indigene geben ihr Wissen mündlich durch auserwählte «Wissenshüter» weiter. Es geht nicht um Dokumente, sondern um Beziehungen und Respekt.
Auch einige der indigenen Völker akzeptieren diese These nicht. Sie berichten in ihren Überlieferungen, dass sie noch Pferde hatten, als die Europäer im 16. Jahrhundert in Amerika eindrangen.
Wie sind Sie denn in Ihrer Studie genau vorgegangen?
Die Initiative kam von den Lakota, einer der Sioux Nationen. Sie wollten mit uns zur Geschichte des Pferdes arbeiten. In der Vergangenheit waren lediglich die Fossilien zweier Pferde analysiert worden. Wir analysierten die Genome von 67 Pferden aus Alaska und Sibirien, die zwischen 50’000 und 13’000 Jahre alt sind. So konnten wir Verwandtschaften und Wanderbewegungen der Tiere zwischen Eurasien und Nordamerika rekonstruieren. Die Ergebnisse glichen wir dann mit dem mündlichen Wissen indigener Gemeinschaften ab.
Was macht das indigene Wissen für Ihre Forschung so wertvoll?
Indigene geben ihr Wissen mündlich durch auserwählte «Wissenshüter» weiter. Dieses Wissen ist heilig und wird nur nach langem Vertrauensaufbau geteilt. Für uns Wissenschaftler war es eine Herausforderung, diesen Zugang zum Wissen zu bekommen. In unserem Fall dauerte es etwa fünf Jahre.
Das klingt nach Culture Clash.
Absolut. Wir westlich geprägten Wissenschaftler arbeiten mit überprüfbaren Daten und veröffentlichen sie. Indigenes Wissen wird von wenigen ausgewählten Hütern des Wissens bewahrt. Nachdem wir unsere Barrieren überwunden hatten, suchten wir nach Übereinstimmungen. Das Ergebnis war wirklich erstaunlich: Es gibt bestimmte mündliche Überlieferungen, die die Existenz eines «Heilerpfads» beschreiben, der Nordamerika und Eurasien über tausende von Jahren verband. Dieses traditionelle Wissen geht also Hand in Hand mit einigen der Resultate, die wir mit unseren Genanalysen gewonnen haben.
Wie hat diese Zusammenarbeit Ihre Sicht auf Wissenschaft verändert?
Sie hat mich gelehrt, unsere Methoden zu hinterfragen und offen für andere Wissensformen zu sein. Das war manchmal schwierig, manchmal schmerzhaft und in jedem Fall bereichernd. Es rief mir in Erinnerung, was jeder Wissenschaftler lernen sollte: Versuch, über dich selbst hinauszudenken.
Das Gespräch führte Katharina Bochsler.