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Entscheidungen über Leben und Tod

Auf Intensivstationen ringen Patienten um ihr Leben – und Angehörige und Ärzte immer wieder um die Entscheidung: Macht eine intensivmedizinische Weiterbehandlung noch Sinn?

Als der 42-jährige Marcel M. nach einem Sportunfall ins Unispital Zürich eingeliefert wird, sieht es nicht gut für ihn aus. Er kann sich nicht bewegen, ist zu keiner Kommunikation fähig, muss beatmet werden. Nach einiger Zeit und vielen Untersuchungen steht fest: Locked-in-Syndrom. Der Patient ist bei vollem Bewusstsein, aber komplett gelähmt und ohne die Möglichkeit, sich verbal oder durch Zeichen verständlich zu machen, zu essen oder zu trinken – sozusagen wach, aber völlig eingeschlossen in sich selbst. Seine Prognose ist nicht rosig: Zwar atmet Marcel M. inzwischen wieder selbständig, dass sich sein Zustand darüber hinaus aber gravierend verbessern wird, ist unwahrscheinlich. Er wird vollständig auf Pflege angewiesen, Kommunikation mit anderen Menschen wird in Zukunft nur über spezielle Hilfsmittel möglich sein. Aber: Mit der entsprechenden Pflege und Ernährung per Sonde und Tropf ist ein voll bewusstes Leben für ihn möglich. Was also tun? Sind alle medizinisch möglichen Massnahmen nur darauf ausgelegt, Leiden zu verlängern – oder eine Chance, weiterleben zu können? Fragen, auf die die medizinischen Intensiv-Teams immer wieder gemeinsam mit Angehörigen Antworten finden müssen.

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Porträt von Tanja Krones.
Legende: SRF

Die Ärztin und Soziologin Tanja Krones leitet die Abteilung für Klinische Ethik des Universitätsspitals Zürich und ist Geschäftsführerin Klinisches des Ethikkomitees des USZ.

«Puls» sprach mit Tanja Krones, die die Abteilung Klinische Ethik am Unispital Zürich leitet und genau mit diesen Fragen in ihrem Alltag konfrontiert wird.

SRF: Tanja Krones, Sie sind Ethikerin im Unispital Zürich. Am Beispiel dieses Patienten zeigt sich ganz deutlich, wie schwer Entscheidungen über Fortführen oder Einstellen von Intensivmassnahmen sind …

Tanja Krones: Solche Situationen sind immer ganz schwierig, bei diesem Patienten aber besonders, weil man sich von aussen betrachtet zuerst einmal nicht vorstellen kann, so leben zu wollen. Man weiss aber auch, dass Patienten, wenn sie in diesen Zustand geraten, durchaus noch Jahre in für Sie annehmbarer Lebensqualität haben und sich selbst an einen so schwierigen Zustand gewöhnen können. Es gibt Situationen, in denen Ärzte aus ihrer Sicht sagen können: Nein, das machen wir nicht mehr, das ist medizinisch nicht mehr sinnvoll. Aber in diesem Fall kann man nicht sagen, es sei grundsätzlich nicht sinnvoll, lebensverlängernd weiter zu behandeln.

Wie Sie sagen: Die Situation ist sehr schwierig. Wie will man sich als Angehörige in einer solchen Ausnahmesituation in den Betroffenen hineinversetzen und für ihn eine Entscheidung fällen? Wer entscheidet am Schluss?

Wichtig ist, dass man sich immer bewusst ist, dass es dafür beide Seiten braucht: den Patienten beziehungsweise seine Angehörigen und die ärztliche Einschätzung. Es gibt viele Situationen, in denen man allein medizinisch betrachtet nicht ganz eindeutig sagen kann, was zu tun ist. Dann muss man bestmöglich versuchen, einen Entscheid zu finden, mit dem man im Konsens leben kann. Denn das sind Situationen – der Unfall dieses Mannes beispielsweise –, die man in der Regel auch in der Familie noch nicht miteinander besprochen hat und mit denen man ja nicht rechnet. Aber: Die Angehörigen kennen diesen Menschen viel besser als wir. Es ist also ihre Aufgabe zu beantworten: Wenn wir mit dem Patienten reden könnten, was glauben Sie würde er zu dem Therapieangebot sagen, alles zu versuchen und das Leben zu erhalten? Oder würde er diesen Zustand für sich nicht wollen und lieber würdevoll sterben? Sie helfen uns dann bei der Entscheidungsfindung sehr, auch wenn wir nie zu 100 Prozent sicher sein können, ob der Patient für sich eine Weiterbehandlung wollen würde oder nicht, wenn er selbst bei klarem Verstand wäre. Uns ist bewusst, dass das ganz schwere Entscheidungen sind, aus denen man nicht herauskommt, ohne sich sozusagen die Hände schmutzig zu machen, denn die Abwägungen, die man dann macht, sind nie schwarz oder weiss.

«Alles zu machen» heisst nicht, dass der Patient es schafft und man sich damit nicht möglicherweise eine Leidensverlängerung einkauft.
Autor: Tanja Krones Ärztin und Ethikerin

Ist es aber nicht so, dass sich die Angehörigen durch diese Verantwortung so überfordert fühlen, dass sie die Therapie einfach weiterführen wollen?

Wenn man die Angehörigen nicht frühzeitig begleitet und unterstützt, dann neigen sie tatsächlich dazu, zu sagen: «Bitte machen Sie alles!», weil sie nicht das Gefühl haben möchten, am Tod eines Angehörigen schuld zu sein. «Alles» heisst aber nicht, dass der Patient es schafft und man kauft sich damit möglicherweise eine Leidensverlängerung ein. Das meine ich damit, dass man da nicht mit «sauberen Händen» herauskommt. Deshalb ist es so wichtig, über solche Themen gemeinsam frühzeitig in der Familie zu sprechen – insbesondere bei Situationen, die vorhersehbar sind.

Wenn wir als Behandlungsteam sicher und innerhalb der Ärzteschaft einig sind, dass eine Therapie nicht mehr zum Ziel führen kann, dürften wir eine Therapie aber auch gegen den Willen der Angehörigen abbrechen. Aber es ist wichtig, Angehörige in diesem Prozess zu begleiten. Manchmal reicht es, ihnen etwas mehr Zeit zu geben – und das macht man auch, wenn der Patient nicht zu stark leidet.

Macht eine Patientenverfügung derlei Entscheidungen einfacher?

Die Patientenverfügung an sich ändert nichts daran, dass das sehr schwierige Entscheidungen sind. Patientenverfügungen sind dann sehr hilfreich, wenn sie möglichst die Wertvorstellung wiedergeben, wenn sie möglichst mit dem Arzt oder einer Gesundheitsfachperson besprochen worden sind. Das geht umso besser, je stärker eine Person bereits in der Krankheitssituation steckt, beispielsweise schwer herzkrank ist, den Aufenthalt auf der Intensivstation bereits kennt und eher beurteilen kann, ob sie da noch einmal durch möchte. Pauschale Patientenverfügungen aus dem Internet, ohne dass diese mit dem Arzt oder den Angehörigen zuvor besprochen wurden, helfen uns aber oft nicht sehr, weil sie nicht wirklich konkret sind und manchmal auch widersprüchlich. Dann dienen sie eher als Kommunikationsinstrument, um herauszufinden, was der Patient damit sagen wollte und was ihm wichtig ist.

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