«Wenn ich früher eine Diagnose erhalten hätte und ich entsprechend früher von Fachleuten begleitet worden wäre, dann hätte mich das vielleicht davor bewahrt, nicht mehr hier sein zu wollen», sagt Noémie Julmy, deren Autismus-Spektrum-Störung erst im Erwachsenenalter erkannt wurde.
Ich fühlte mich immer fehl am Platz und nie im Einklang mit der Umwelt.
Julmy haderte 33 Jahre lang mit sich. Ähnlich erging es Véronique Schucany. «Ich fühlte mich immer fehl am Platz und nie im Einklang mit der Umwelt», erinnert sich die 58-Jährige, deren Diagnose erst 2016 gestellt wurde.
Auch Romane Garcia erhielt die Diagnose «hochfunktionaler Autismus» erst mit 22 Jahren: «Ich habe wirklich das Gefühl, dass ich anders bin, und deswegen wurde ich auch oft gehänselt.»
Das Hirn entwickelt sich anders
Menschen mit Autismus nehmen die Welt in allen Bereichen der Wahrnehmung anders wahr als ihre Mitmenschen. Zwar sind die Ursachen für die Entstehung einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) noch nicht abschliessend geklärt.
Forschungsergebnisse weisen jedoch nebst Umweltfaktoren auf eine genetische Ursache hin. Diese führt dazu, dass sich Nervenzellen des Gehirns, die unter anderem für die sozialen und kommunikativen Fähigkeiten verantwortlich sind, anders vernetzen.
Geschätzt ein Prozent der Bevölkerung lebt mit Autismus. Dabei reicht das Spektrum vom kognitiv und sprachlich stark eingeschränkten Kind bis zur hochintelligenten Wissenschaftlerin, die vielleicht ein wenig eigenartig wirkt. Die ausgeprägteren Fälle werden meist schon im Kleinkindalter bemerkt, da die Betroffen in der sprachlichen Entwicklung oft schwer beeinträchtigt sind.
Ich hatte früher grosse Mühe, Menschen zu begrüssen, denn ich bin eine sehr ängstliche Person.
Fälle wie Noémie Julmy, Romane Garcia und Véronique Schucany fallen jedoch weniger auf, da diese Menschen im Alltag in der Regel funktionieren, trotz bestimmter Eigenheiten.
«Seit jeher fällt es mir schwer, meine Gesprächspartner anzusehen», erzählt Romane Garcia und Noémie Julmy fügt an: «Ich hatte früher grosse Mühe, Menschen zu begrüssen, denn ich bin eine sehr ängstliche Person.» Diese Schwierigkeiten im sozialen Umgang sind typisch für Menschen mit Autismus.
Sich in einer Tätigkeit vergessen
Ebenfalls typisch ist die Fokussierung auf spezifische Interessengebiete. Romane Garcia kann sich beispielsweise noch heute stundenlang der japanischen Faltkunst Origami widmen und dabei tausendfach die gleiche Figur falten. «Dabei vergesse ich alles um mich herum, sogar, dass ich Pausen machen sollte, um zu essen und zu trinken», erzählt die 22-Jährige. Für sie sei dies auch eine Möglichkeit, in eine Welt zu flüchten, die sie als einfacher empfindet als die Realität.
«Wir haben dieses stereotypische Bild von jemandem, der alles über Züge, Flaggen oder Hauptstädte weiss», erklärt Marie Schaer, die als Neurowissenschaftlerin die Hirnentwicklung bei Autismus erforscht. Sie fügt an: «Diese spezifischen Interessen sind bei Mädchen jedoch häufig anders gelagert.» Viel eher würden autistische Mädchen beispielsweise alles über ein soziales Netzwerk oder eine bestimmte TV-Serie wissen. Doch: «Solche spezifischen Interessen fallen weniger auf.»
Genderklischees machen Autistinnen unsichtbar
Noémie Julmy, Romane Garcia und Véronique Schucany haben alle drei die Diagnose hochfunktionaler Autismus erhalten. Anders als beim frühkindlichen Autismus wiesen sie in ihrer Kindheit keinen Entwicklungsrückstand wie beispielsweise beim Sprechen auf. Ihr Autismus fiel deshalb weniger auf, weshalb bei solchen Fällen eine frühzeitige Diagnose häufiger verpasst wird. Zudem sind die Symptome bei Frauen im Vergleich zu Männern meist weniger stark ausgeprägt.
Während Knaben mit Autismus eher aufbrausend und bei grösserer Not teilweise sogar aggressiv sind, ziehen sich Mädchen eher zurück und wirken schüchtern.
Mädchen mit Autismus sind denn auch oft ruhiger und können ihr Verhalten besser kontrollieren als Jungen. «Während Knaben mit Autismus eher aufbrausend und bei grösserer Not teilweise sogar aggressiv sind, ziehen sich Mädchen eher zurück und wirken schüchtern», erklärt Bettina Tillmann, Leiterin des GSR Autismuszentrum in Aesch .
Imitieren als Tarnung
Mädchen haben auch eher die Fähigkeit, Schwierigkeiten zu verstecken. So beobachtete Véronique Schucany schon seit ihrer Kindheit ihre Mitmenschen und ahmte deren Verhalten nach: «Ich habe meine Umgebung imitiert und mich so versteckt.» Da sie nie wusste, was für ein Gesicht sie machen sollte, habe sie einfach gelächelt. «Das kommt immer gut an.»
Auch Romane Garcia hat über die Jahre Strategien entwickelt, um möglichst nicht aufzufallen: «Ich weiss, dass ich in einem Gespräch alle zwei oder drei Sätze mein Gegenüber anschauen sollte.»
Das ständige Sich-Anpassen ist anstrengend und hinterlässt Spuren. «Häufig fallen diese Frauen erst durch eine Zweiterkrankung wie eine Depression, Angst- oder Essstörung auf und erst im Rahmen dieser diagnostischen Abklärungen fällt auf, dass eigentlich eine Autismus-Spektrum-Störung dahintersteckt», erklärt die Kinderärztin Bettina Tillmann.
Diagnose bringt Erleichterung
Auch bei Noémie Julmy wurde zuerst fälschlicherweise eine Zwangsstörung diagnostiziert. Erst als sie dem Druck und der konstanten Reizüberflutung im Grossraumbüro nicht mehr gewachsen war, wurde ihre Autismus-Spektrum-Störung erkannt.
Es war mir nicht bewusst, dass ich mich ständig verstellte, aber ich hatte immer Angst, etwas falsch zu machen und verspürte einen grossen Druck.
«Es war mir nicht bewusst, dass ich mich ständig verstellte, aber ich hatte immer Angst, etwas falsch zu machen und verspürte einen grossen Druck. Eines Tages wurde mir das alles zu viel.» Noémie Julmy erlitt einen Zusammenbruch und kann seither nicht mehr arbeiten. Sie ist deshalb in psychotherapeutischer Behandlung.
«Die Autismus-Diagnose war eine Erleichterung, weil ich jetzt weiss: Ich bin nicht verrückt, ich bin nicht dumm, ich bin nicht krank. Es ist nur mein Gehirn, das anders funktioniert. Deswegen bin ich anders», erzählt sie heute.
Erst dank der Diagnose kann Noémie Julmy ihr Anderssein verstehen und akzeptieren. «Ich versuche nun, meinen Autismus als Geschenk anzunehmen, denn trotz aller Schwierigkeiten gibt es doch Dinge, die man als Bereicherung sehen kann.»