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Geschlechtersensible Medizin Was will eigentlich die Gendermedizin?

Geschlechterspezifische Unterschiede sichtbar machen: Das will die Gendermedizin. Lange galt diese als feministisch besetztes Nischenthema. Jetzt interessieren sich plötzlich auch die Männer.

Wenn der Bauch-Chirurg Guido Beldi am Operationstisch steht, kommt es sehr darauf an, ob ein Patient oder eine Patientin vor ihm liegt. Zum Beispiel, wenn er eine Leber transplantiert: «Männer haben in der Regel grössere Organe als Frauen, deshalb ist es technisch oft schwierig, eine männliche Spenderleber einer Frau zu implantieren.»

Die Operation an einem übergewichtigen Mann ist anspruchsvoller als an einer übergewichtigen Frau.
Autor: Guido Beldi Chirurg am Inselspital Bern

Manchmal müsse man dann die Spenderleber chirurgisch verkleinern. 

Schmales Becken – weites Becken 

Auch in anderen Situationen seien die geschlechterspezifischen Unterschiede in seinem Fach sehr präsent, sagt Guido Beldi, der am Inselspital Bern tätig ist. Beim Mann sei zum Beispiel der Fettanteil des Körpers anders verteilt als bei der Frau, nämlich mehr im Innern des Bauchs. «Die Operation an einem übergewichtigen Mann ist somit anspruchsvoller als an einer übergewichtigen Frau.» Zumal alle Männer rein anatomisch ein schmaleres Becken hätten. 

Die Unterschiede zwischen Patientin und Patient sind nicht nur äusserlich – sie bestehen im ganzen Körper.  

Physiologische Unterschiede Mann – Frau 

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Vieles haben Frauen und Männer physiologisch gemeinsam – manches ist verschieden.

Diese Unterschiede zeigen sich im Körper auf vielfältige Art:

  • in den Organen und wie sie funktionieren
  • in den verschiedenen Geweben und sogar auf Zellebene
  • im Blutserum und in Eiweissen
  • in den Molekülen, die Schmerzsignale verarbeiten und weiterleiten
  • in der Art und Weise, wie Zellen zugrunde gehen nach einem Schlaganfall
  • in der Verarbeitung der Medikamente, zum Beispiel bei einer Krebserkrankung.

Diese Unterschiede sichtbar zu machen, ist das Ziel der Gendermedizin. Lange hat diese ein Mauerblümchendasein gefristet. Das Thema galt als «Frauensache», denn Frauen seien historisch in der Medizin ignoriert worden, sagt die Epidemiologin Sanne Peters von der Universität Utrecht. «Jahrhundertelang regierte die Vorstellung, der männliche Körper repräsentiere den Körper schlechthin.» Das Beschreiben von Krankheiten, das Testen und Dosieren von Medikamenten – alles habe sich am Mann orientiert. 

Osteoporose bei Männern unterdiagnostiziert 

Ein Irrtum, wie man inzwischen weiss. Etwa bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, zu denen Sanne Peters forscht: Hier seien die Frauen gegenüber den Männern klar im Nachteil. Ein akuter Herzinfarkt werde bei Frauen noch immer weniger oft erkannt als bei Männern.

Mann auf Sofa spricht mit Beraterin, Notizen haltend.
Legende: Depressionen werden bei Männern oft weniger ernst genommen als bei Frauen. IMAGO / YAY Images

Der Geschlechtergraben gelte aber auch umgekehrt: «Oft sind es auch Männer, die zu wenig beachtet werden», sagt Peters. «Das gilt für Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis, aber auch für Osteoporose oder Depressionen: Viele Männer leiden unter diesen Krankheiten, die Aufmerksamkeit aber bekommen betroffene Frauen.» 

3D-Darstellung eines menschlichen Herzens im Brustkorb.
Legende: Das weibliche Herz ist kleiner als das männliche. Auch sind bei Frauen die Herzkranzgefässe schmaler als bei Männern. Dadurch sind Herzkrankheiten bei ihnen oft schwieriger zu diagnostizieren. Symptome eines Herzinfarkts können sich bei Frauen und Männern unterscheiden. IMAGO / Zoonar

Sanne Peters ist überzeugt: In 20 bis 30 Jahren wird eine geschlechterspezifische Medizin selbstverständlich sein. Das sei nicht nur eine Art moralischer Imperativ; diese Unterschiede zu ignorieren, koste einfach zu viel Geld. «Das weckt politische Aufmerksamkeit, und in vielen Ländern wird jetzt in diese Forschung investiert», so die Epidemiologin.  

Vorreiterin der Gendermedizin: die Schweiz 

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Die Schweiz gilt als fortschrittliches Land in der Gendermedizin. Das sagt Carole Clair von der Universität Lausanne, eine der Pionierinnen hierzulande. Die Internistin verweist auf das Nationale Forschungsprogramm NFP 83, das der Bundesrat 2023 bewilligt hat und das Carole Clair wissenschaftlich leitet: «Vor zehn Jahren wäre ein solches Programm noch unmöglich gewesen – unterdessen hat man erkannt, dass das Thema wichtig ist.» 

Die Professorin nennt weitere Erfolge: In Zürich wird Gendermedizin an der Universität gelehrt, andere Schweizer Unis wollen dem Beispiel folgen. Ein neues Herzzentrum am Inselspital Bern fokussiert sich auf die Prävention und Behandlung von Herzerkrankungen speziell für Frauen. Und auch die Wirtschaft engagiert sich zunehmend. Das wird von den Schweizer Pionierinnen begrüsst: Es zahle sich aus, in eine geschlechtersensible Medizin zu investieren. 

Die Gendermedizin werde sich deshalb wandeln – weg von einer Bewegung, wie sie jetzt eine ist, hin zu einem integralen Bestandteil des Gesundheitssystems, ist Sanne Peters überzeugt. 

Die Zukunft ist nonbinär und personalisiert 

Langfristig jedoch wird auch das nicht genügen. Denn die binären Kategorien – männlich, weiblich – reichen nicht aus. Was ist mit Menschen, die intersexuell sind? Was ist mit transgender? Welchen Einfluss haben Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, Religion oder sozio-kulturelle Einflüsse auf die Gesundheit? 

Eine künftige Medizin – da sind sich die Fachleute einig – ist personalisiert, das heisst massgeschneidert und im besten Fall sogar abgestimmt auf das genetische Profil eines Individuums. Da ist die Unterscheidung zwischen Mann und Frau nur ein Faktor von vielen.

Radio SRF 2, Wissenschaftsmagazin, 25.10.2015, 12:40 Uhr

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