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«Medikamente wurden jahrzehntelang nur an Männern getestet»

Männer und Frauen sind nicht gleich – auch nicht als Patienten. Diese Tatsache hat die Medizin bislang vielfach vernachlässigt, sagt Medizinhistorikerin Mariacarla Gadebusch Bondio.

SRF: Gendermedizin bedeutet «geschlechtsbezogene Medizin». Worum geht es dabei genau?

Mariacarla Gadebusch Bondio: Lange Zeit galt in der Medizin ein einheitliches Bild vom «Patienten», ohne Unterteilung in Mann und Frau. Allerdings war dieser Standardpatient implizit männlich, für Frauen wurden einfach dieselben Gegebenheiten angenommen. Ganz wichtig ist hier die pharmazeutische Forschung: Jahrzehntelang wurden Medikamente ausschliesslich an Männern getestet; auch heute noch sind sie massiv übervertreten. Bei der Gendermedizin geht es darum anzuerkennen, dass Männer und Frauen unterschiedlich sind und eine gesonderte Betrachtung verdienen.

Was sind das für Unterschiede?

Das fängt schon auf sozialer und Mentalitäts-Ebene an. Frauen haben ein anderes Körperbewusstsein und Gesundheitsverhalten als Männer. Sie gehen anders mit Schmerz und Krankheit um – das alles müsste berücksichtigt werden. Dann gibt es die biologischen Unterschiede: andere Gene, eine unterschiedliche Körperzusammensetzung und vor allem andere hormonelle Ausprägungen sowie Stoffwechsel. Das führt dazu, dass Mann und Frau unterschiedlich erkranken, sich bei derselben Krankheit Medikamente unterschiedlich auswirken. Daher wäre es effektiv, Männer und Frauen geschlechterspezifisch zu behandeln.

Meinen Sie damit grundverschiedene Medikamente für Mann und Frau?

In Extremfällen ja. Es gibt Beispiele, wo sich längst nach der Markteinführung von Medikamenten herausstellte, dass sie bei Frauen gravierende Schäden verursachten. In den meisten Fällen wird es jedoch vor allem um geschlechtsspezifische Dosierungen gehen. Die Zukunftsvision wären wohl blaue und rosa Packungen vieler Medikamente in der Apotheke – für jedes Geschlecht in der optimal wirksamen Form und Dosierung. Davon profitieren beide Geschlechter mehr als von einer einheitlichen Behandlung.

Wie weit sind wir davon noch weg?

Noch sehr weit. Die Genderforschung steht trotz aller Bemühungen in vielen medizinischen Bereichen noch am Anfang – mit Ausnahme der Herz- und der Krebsmedizin, wo mittlerweile recht viel bekannt ist und teilweise sogar in die medizinische Praxis und Lehre einfliesst. In den meisten anderen Fächern sind sogar renommierte Experten verblüfft, wie wenig in der Forschung nach geschlechtlichen Unterschieden gefragt wird. Man weiss: Es muss zahlreiche geben – doch spezifisch danach gesucht wird kaum.

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Porträtaufnahme von Mariacarla Gadebusch Bondio.
Legende: SRF

Mariacarla Gadebusch Bondio ist Philosophin und Medizinhistorikerin und forscht an der TU München zu genderspezifischen Themen. Voraussichtlich im Herbst erscheint ein Buch von ihr mit dem Titel «Gendermedizin».

Der momentane Trend geht ja in Richtung personalisierte Medizin, das heisst, massgeschneiderte Therapien fürs Individuum. Macht dies die Gendermedizin nicht überflüssig?

Ganz im Gegenteil. Die gesonderte Betrachtung für Männer und Frauen macht eine individuell massgeschneiderte Therapie überhaupt erst möglich. Die Unterteilung in Mann und Frau ist ein erster Schritt der personalisierten Medizin, danach kann man spezifisch für Männer und Frauen versuchen, die Therapie weiter zu individualisieren. Die männlichen und weiblichen Hormone spielen schliesslich eine ebenso wichtige Rolle für Krankheiten wie die Gene, und in der personalisierten Medizin geht es nur um letztere. Zu sagen, eine geschlechtsspezifische Betrachtung würde durch individualisierte Therapien überflüssig, ist, als würde man sagen, es würden dadurch medizinische Fachrichtungen wie Kinderheilkunde oder Altersheilkunde überflüssig.

Inwiefern ist geschlechtsspezifisches Denken schon in den Köpfen praktizierender Ärzte angekommen?

Wahrscheinlich noch eher wenig. Mittlerweile hat die Gendermedizin vor allem in Österreich und Deutschland an diversen Universitäten Einzug gehalten, jedoch meist nur in Form freiwilliger Module oder Ringveranstaltungen, ohne Prüfungen oder Ähnlichem. Entsprechend kommen nur wenige, besonders interessierte Medizinstudenten. Möchte man die angehenden Ärzte wirklich für geschlechtsspezifische Themen sensibilisieren, müssten diese Vorlesungen Teil des normalen Curriculums werden.

Warum ist man sich denn so sicher, dass sich die genderspezifische Forschung überhaupt lohnt?

Weil es immer mehr Beispiele von Medikamenten gibt, wo in rückblickenden grossen Studien geschlechtsbezogene Unterschiede in Wirksamkeit und Nebenwirkungen auffielen. Das hätte man auch von Vornherein gesehen, hätte man die Analysen getrennt nach Mann und Frau gemacht. Ebenso wie ein Kind oder ein Greis nicht denselben Stoffwechsel wie ein 40-Jähriger haben und darum getrennt betrachtet werden muss, muss künftig dasselbe für Mann und Frau gelten.

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