Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Am Kinderspital Zürich haben sich die Notfallkonsultationen in den letzten achtzehn Jahren von 17'188 auf 36'617 mehr als verdoppelt. Und am Kantonsspital Baden sind im Jahr 2005 3429 Kinder und Jugendliche notfallmässig behandelt worden, 2013 hat sich die Zahl mit 12'451 bereits mehr als verdreifacht.
Die Bevölkerung ist in der gleichen Zeit viel weniger stark gewachsen. Und die Zahlen steigen, obwohl in den letzten Jahren neue Konzepte entstanden sind, etwa mit zusätzlichen Notfallpraxen in der Nähe grosser Spitäler, Angebote mit Spezialisten an Beratungstelefonen und neu eröffnete Kinder-Permanencen , die Kinder auch an Randzeiten behandeln.
Besuch in der Notaufnahme
Sonntag, 19. Januar 2014. In den 24 Stunden dieses Tages betreuen Ärzte und Pflegepersonal vom Kantonsspital Baden 48 Kinder und Jugendliche im Notfall. Ein eher unterdurchschnittlicher Sonntag. Sechs Kinder brauchen intensivere Pflege und werden stationär aufgenommen. Der Rest kann das Spital nach der Behandlung wieder verlassen. In vielen Fällen wäre der Gang zur Notfallstation nicht zwingend gewesen und auch der Haus- oder Kinderarzt hätte tags darauf mit Rat und Tat zur Seite stehen können.
«Puls»-Chat
In der Liste der Gründe für die Notfallkonsultation finden sich an diesem Wochenendtag unter anderem ein Bluterguss unter dem Fingernagel, eine Magen-Darm-Verstimmung, eine Verstopfung, eine Prellung am Fuss, eine Bindehautentzündung und mehrere leichte Atemwegsinfekte.
«Ich sehe es ein bisschen als Zeichen unserer Zeit, dass die Eltern vermehrt versuchen, Konsultationen in Randzeiten, in den Abend oder aufs Wochenende zu legen», erklärt Urs Lässer, leitender Arzt an der Klinik für Kinder und Jugendliche am Kantonsspital Baden , den Trend, «Es ist ein bisschen wie mit den Ladenöffnungszeiten: Der Wunsch nach einem Rundumservice zu jeder Tages- und Nachtzeit wächst stetig.» Oft treibe auch die berufliche Doppelbelastung von Mutter und Vater die verunsicherten Eltern direkt in den Notfall. Schliesslich werde man ja am Montag am Arbeitsplatz erwartet.
Kinderarzt Urs Lässer ärgert sich denn auch nicht über die Notfälle, die eigentlich gar keine sind. Trotzdem belasten sie das System, gibt er zu bedenken: «Natürlich gehören die aus medizinischer Sicht harmlosen Fälle zu unserem Beruf mit dazu und wir machen das auch gerne. Nur wenn man von der Kostenexplosion im Gesundheitswesen spricht, dann muss man sich eben auch bewusst sein, dass die Medizin im Spital eine teurere Medizin ist und die gleiche Behandlung in der Arztpraxis weniger kostet.» In Spitzenzeiten bedeutet es für die kleinen Patienten manchmal aber auch lange Wartezeiten, weil die schwerwiegenden Fälle natürlich Vorrang haben.
Behandlung nach Dringlichkeit
Aufgrund der steigenden Zahlen der Notfallpatienten haben die meisten Spitäler ein so genanntes Triage-System eingeführt. Die Patienten werden nicht einfach in der Reihenfolge ihres Eintreffens behandelt; entscheidend ist vielmehr die Dringlichkeit des Problems.
Die Einteilung in die fünf Kategorien übernimmt eine speziell ausgebildete Notfall-Pflegefachperson. Wer einen Kreislaufstillstand, eine unkontrollierte Blutung oder schwere Atemnot hat, wird sofort behandelt. Wer über leichtes Fieber, Husten und allgemeines, schwaches Unwohlsein klagt, muss bei überlastetem Notfall allenfalls eine bis zwei Stunden auf die Behandlung warten.
Die Eltern dürften sich ruhig zutrauen, eine Zecke richtig zu entfernen.
Eine weitere Idee setzt bei den Eltern direkt an: speziell konfektionierte Elternkurse, die Wissen vermitteln und etwas mehr Ruhe und Gelassenheit bringen. Der Schweizerische Samariterbund, die Kinderarzthäuser in St. Gallen, Aarau und Zürich und auch Pflegefachfrau Elisabeth Wetzstein bieten solche Kurse an.
«Auf Klettergerüste klettern und auch einmal runter fallen und sich eine Schramme holen, gehört zum Kindsein mit dazu», ist die vierfache Mutter überzeugt. «Verhält sich das Kind nach dem Sturz normal, dann braucht es keinen Arzt. Der Allgemeinzustand verrät einem, wie es dem Kind geht», weiss Elisabeth Wetzstein.
Das gelte insbesondere auch bei Fieber: «Man muss das Kind beurteilen und nicht den Fiebermesser. Ein Kind, das bei 39 Grad Fieber noch Velo fährt und munter ist, braucht keinen Arzt. Ein Kind, das bei 38,2 Grad teilnahmslos und verändert wirkt, allerdings schon.» Es müsse aber auch dann nicht unbedingt der Notfallarzt sein. Im privaten Rahmen in den eigenen vier Wänden bei interessierten Eltern zu Hause erklärt sie, wie man ein krankes Kind beurteilt, was man zum Beispiel bei Verbrennungen machen kann, oder wie man mit dem Heimlich-Manöver einen verschluckten Gegenstand aus der Luftröhre drückt.
Alle erreiche sie mit ihren Kursen natürlich nicht und die ganz Lernresistenten gebe es ab und an auch: «Einige Eltern haben schlicht das Gefühl, oder gar den Anspruch, dass der Notfallmediziner das Kind auf Platz wieder gesund macht, so dass der Husten morgen weg ist und es in der Krippe abgegeben werden kann.» Der Wille, selber Verantwortung zu übernehmen, muss natürlich da sein.