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Störungen im Gehirn – Faszinierend und verstörend

Plötzlich in fremdem Dialekt sprechen, ständige Déjà-vus erleben: Das Gehirn kann bizarre Veränderungen mit uns vornehmen.

Alle Menschen sind verschieden, haben eigene Neigungen und individuelle Besonderheiten – so viel ist klar. Neurologisch interessant wird es erst, wenn plötzlich substanzielle Veränderungen in einem Menschen vorgehen, ein ehemals verschlossener, ernster Mensch beispielsweise plötzlich beginnt, in unkontrollierte Lachsalven auszubrechen oder ein Walliser auf einen Schlag nur noch Berner Dialekt spricht.

In solchen Fällen kommen Neuropsychologen wie die Zürcher Ärztin Prof. Marianne Regard ins Spiel. Sie ist bis heute fasziniert davon, welche Veränderungen sich im Gehirn abspielen können – und welche Folgen diese haben. In ihrer langjährigen Berufspraxis hat sie davon viele gesehen.

Mundartwechsel

Eine solche Störung, von der immer wieder zu lesen ist, ist die Veränderung des Dialekts. Meist liegt einer solchen Störung eine Hirnverletzung zugrunde. Diese Verletzung wirkt sich auf die Sprachmelodie aus, was nach aussen dann wie ein neuer Dialekt klingen kann. Wahrscheinlich sind dafür neurologische Störungen verantwortlich, die die feinen Muskelbewegungen, die beim Sprechen erforderlich sind, durcheinanderbringen. Oder aber, die Fähigkeit fehlt plötzlich, die eigene Aussprache wahrzunehmen und korrigieren zu können. Nach einem Unfall plötzlich russisch zu sprechen, ohne es je zuvor gelernt zu haben, ist dagegen unmöglich. Wohl aber kann wieder eine Sprache die Überhand gewinnen, die ein Mensch beispielsweise aus seiner Kindheit gut kennt, später jedoch nicht mehr gesprochen hat.

Treten solche Veränderungen ein, müssen nicht immer Verletzungen oder Erkrankungen wie Tumoren die Ursache sein. Auch funktionelle Störungen sind möglich, durch Müdigkeit zum Beispiel oder auch durch bestimmte Medikamente. Funktionsstörungen dieser Art sind jedoch leicht wieder reversibel.

Vom Jurist zum Gastro-Kritiker

Ein anderes kurioses Phänomen haben Marion Regard und ihr Team selbst entdeckt und «Gourmand-Syndrom» getauft. Sie lernten Patienten kennen, bei denen Essen plötzlich eine zunehmend grosse Rolle im Leben spielte – und zwar nicht nur die Nahrungsaufnahme an sich, sondern anders als bei anderen Essstörungen auch das «Drumherum»: vom Lesen von Kochbüchern angefangen über das Zelebrieren der Gerichte bis hin zum Kochen, Einkaufen usw. «Das waren Menschen, die sich davor ganz normal ernährt haben, und plötzlich haben sie eine übergrosse Leidenschaft fürs Essen entwickelt. In dem Fall war eine Stelle im Gehirn von Störungen betroffen, die die Impulskontrolle reguliert.»

Als die Neurologen ihre neuesten Erkenntnisse veröffentlichten, meldete sich ein aufgebrachter Gastro-Kritiker aus den USA zu Wort, der diese Theorie unbedingt widerlegen wollte – auch noch, nachdem er aufgeklärt worden war, dass nicht die Passion fürs Essen krankhaft ist, sondern die plötzliche Veränderung. Der Gastro-Kritiker liess nicht ab – und tatsächlich brachte eine Untersuchung ans Tageslicht, dass eine zurückliegende Kopfverletzung sein Gehirn just an der Stelle beschädigt hatte, die Marion Regard zuvor in ihrer Studie beschrieben hatte. Der bekannte Gastro-Kritiker war einmal Jurist gewesen und hatte sich erst nach seinem Schädel-Hirn-Trauma zum passionierten Gastro-Kritiker entwickelt – eine Unfallfolge, von und mit der er durchaus gut leben kann.

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