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Unterschätztes Bindegewebe Faszien: Die unbekannte Welt unter unserer Haut

Neue Forschungsergebnisse belegen faszinierende Zusammenhänge und machen Rückenschmerzgeplagten Hoffnung.

Faszien: Kaum ein anderer Teil der menschlichen Anatomie wird unterschiedlicher beurteilt. Während die einen darin seit jeher den Schlüssel zur erfolgreichen Behandlung diffuser Schmerzen sehen, galt das Bindegewebe in der Schulmedizin lange nur als bedeutungsloses Hüllmaterial – wegzuoperieren und wegzupräparieren.

Nun zeigt sich immer klarer: Wer die Faszien nur auf ihre Hüll- und Stützfunktion reduziert, tut ihnen unrecht. Gerade beim verbreiteten Leiden Rückenschmerzen könnten sie eine weit wichtigere Rolle spielen, als bisher angenommen.

Was sind Faszien?

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Legende: srf

Faszien (lat. Fascia für «Band», «Bandage») sind ein verborgenes Bindegewebe überall in unserem Körper – direkt unter der Haut und tiefer. Ungefähr 20 Kilogramm unseres Körpergewichts soll dieses weissliche Gewebe ausmachen.

Die Faszien umhüllen unsere Muskeln, Sehnen und Organe. Sie sind Bindeglied zu unseren Knochen.

Jean Claude Guimberteau vom Institut für Hand- und Fusschirurgie in Bordeaux machte mit einer besonderen Kamera als einer der ersten die Welt der Faszien sichtbar. Der Handchirurg hat das faszinierende Ganzkörpernetz bei seinen unzähligen Operationen entdeckt: «Wir sind wirklich ein Netz von Fasern. Und das zieht sich von der Oberfläche der Haut bis in die Tiefen des losen Bindegewebes und der Zellen. Alles ist durch eine Struktur von extrem flexiblen Fasern miteinander verbunden. Es gibt keine freien Räume – alles hängt zusammen!»

Welche Ordnung lässt sich in diesem gigantischen Ganzkörpernetz finden, welchen Sinn und welche Funktion haben die Faszien? Der Lösung dieser Rätsel kommt die internationale Forschung immer näher.

Zum gewachsenen wissenschaftlichen Verständnis massgeblich beigetragen hat Carla Stecco. Die Professorin für Anatomie an der Universität von Padua in Italien hat die Faszien als eine der ersten weltweit erforscht und einen Atlas darüber geschrieben – also das Fasziengewebe in unserem ganzen Körper systematisch erfasst.

Um das fasziale Gewebe ihren Studentinnen und Studenten näherzubringen, greift sie auch einmal zu einer Südfrucht: «Schneiden wir die Pampelmuse in der Mitte entzwei, sehen wir nicht nur das Fleisch, sondern auch eine fasrige Komponente, die die Frucht in Einzelstücke teilt und das Gewebe stützt.»

Im Moment konzentriert sich die Arbeit von Carla Stecco auf die «Fascia thoracolombalis», die grosse Rückenfaszie. Ihrer Meinung nach eine besonders kritische Zone im Lendenbereich, die auch im Fokus vieler anderer Forschenden steht. Noch sind längst nicht alle ihre Geheimnisse entschlüsselt, doch die Hinweise verdichten sich, dass die grosse Rückenfaszie der Ursprung von unspezifischen Rückenschmerzen sein könnte, unter denen weltweit Millionen Menschen leiden.

Die grosse Rückenfaszie im Lendenbereich ist meiner Meinung nach eine besonders kritische Zone.
Autor: Carla Stecco

Die Rückenfaszie ist einer der wichtigste Faszien in unserem Körper. Doch wie kann es sein, dass eine Faszie Schmerzen verursacht? Warum macht uns dieser «Gewebelappen» immer wieder Probleme?

Mit dieser Frage befasst sich auch Hélène Langevin am Harvard Medical Institute in Boston. Sie ist eine Faszien-Wissenschaftlerin der ersten Stunde. Ursprünglich klinische Medizinerin, musste sie ihre Patienten mit chronischen Rückenschmerzen oft genug nach Hause schicken. Das wollte sie ändern.

«Es gibt viele Menschen mit chronischen Rückenschmerzen. Aber wenn man ihre Wirbelsäule röntgt oder im MRI untersucht, sind die Befunde normal und geben keinen Hinweis darauf, was die Schmerzen auslöst.» Andererseits gebe es viele Menschen mit schrecklichen MRI-Bildern von kaputten Bandscheiben, die aber unter keinen Schmerzen leiden.

Das lenkte Hélène Langevins Aufmerksamkeit auf die Lendenfaszie, die riesige Struktur im Rücken, die die Schultern mit den Hüften verbindet. Um der Ursache für den unspezifischen Rückenschmerz auf die Spur zu kommen, verglich sie das Gewebe bei Patienten mit und ohne Rückenschmerzen – und stellte einen Unterschied der Gleitfähigkeit fest.

Bei Menschen mit Rückenschmerzen ist die Gleitfähigkeit der Faszien auf die Hälfte reduziert.
Autor: Hélène Langevin

«Im Normalfall haben wir da zwei Schichten, die sich über 65 Prozent ihrer Länge bewegen können sollten, wenn der Rücken sich bewegt.» Diese Bewegung ist bei Menschen mit Rückenschmerzen auf die Hälfte der Länge reduziert, «also können die Schichten weniger gut gleiten.»

Verklebtes Gewebe als Ursache für unspezifische Rückenschmerzen. Wäre da nicht Bewegung und Dehnen ein logischer Therapieansatz, um das Fasziengewebe zu lösen?

Fibrolasten, die fleissigen «Faszien-Ameisen»

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Legende: SRF

Die Faszien setzen sich zusammen aus Fibroblasten und der sie umgebenden Matrix. Die Fibroblasten stellen unter anderem die Kollagenfasern her, aus der die Matrix zu grossen Teilen besteht. Man kann sagen, mit dem Kollagen bauen sie ihr eigenes Zuhause.

«Interessanterweise machen die Zellen im faszialen Bindegewebe nur einen geringen Volumenanteil aus, aber sie erzeugen einen grossen Teil des Restes», erklärt Robert Schleip. «Ich vergleich das gern mit Ameisen, die einen grossen Ameisenberg zusammen aufgebaut haben, obwohl sie selbst nur weniger als zehn Prozent vom Volumen ausmachen.»

Ganz klar ja, meint Robert Schleip, der am Institut für Angewandte Physiologie der Universität Ulm in Günzburg über das fasziale Gewebe promoviert hat. Gemeinsam mit seinem Ulmer Forschungskollegen Werner Klingler macht sich Robert Schleip auf die Spur der Fibroblasten, einer spezifischen Zellenart des Fasziengewebes.

Schleip und Klingler haben untersucht, wie sich das Gewebe in einem Arm verändert, der nach einer Verletzung eingegipst wird. Ihre Studie zeigt, wie wichtig Bewegung für unsere Faszien ist: Nach drei Wochen im Gips ist auf den Vergleichsaufnahmen gut zu sehen, wie sich das Gewebe verändert hat. Es beginnt zu wuchern, ist verflizt, die Struktur verdickt und chaotisch.

Das Fazit der Forscher: Bewegung ist notwendig, um unsere Faszien überhaupt aufrechtzuerhalten.

Durch Bewegung und Dehnung heilen Wunden schneller. Unter dem Mikroskop zeigt sich der Grund dafür. Es sind die Fibroblasten, die sich dabei dramatisch ausdehnen – bis zu 200 Prozent. Und nicht nur das: Die gedehnten Zellen senden auch Signale, die das Gewebe entspannen.

Für Faszien-Forscherin Hélène Langevin eine bahnbrechende Erkenntnis: «Das war völlig neu. Wir haben herausgefunden, dass die Versteifung des Bindegewebes von Minute zu Minute aktiv durch die Fibroblasten reguliert wird. Die Zellen beeinflussen die Spannung des Gewebes.» Ein bedeutsamer Zusammenhang, wenn man bedenkt, dass die Fibroblasten auf Akupunktur reagieren. «Sie dehnen sich aus, und das lässt das Gewebe entspannen wie beim Stretchen.»

Hélène Langevin untersucht den Zusammenhang zwischen Bewegung, Dehnen und Rückenproblemen und zeigt damit Wege zur Heilung auf. Andere Forscher haben nachgewiesen, dass die Faszien von unzähligen Schmerzrezeptoren durchzogen sind. Was unser Bindegewebe zu unserem empfindlichsten Wahrnehmungsorgan macht – und zu einer wichtigen Schmerzquelle.

Die Vermutung liegt nahe, dass diese Rezeptoren nicht nur auf falsche Haltung und zu wenig Bewegung reagieren. Robert Schleip betreibt weitere Ursachenforschung und richtet sein Augenmerk dabei auf biochemische Zusammenhänge. «Bei unseren Versuchen hat sich gezeigt, dass sich Faszien als Reaktion auf verschiedene Botenstoffe sichtbar zusammenziehen – völlig unabhängig von einem muskulären oder nervlichen Reiz.»

Die Faszien reagieren auch auf Botenstoffe, die nicht nur mit Entzündungen zusammenhängen, sondern mit emotionalem Stress.
Autor: Robert Schleip

Und nicht nur das: «Die Faszien reagieren auch auf Botenstoffe, die nicht nur mit Entzündungen zusammenhängen, sondern mit emotionalem Stress.» Der Nachweis für einen Zusammenhang, den Rückenschmerz-Betroffene schon immer gespürt haben: Emotionaler Stress kann auch Verspannungen und Schmerzen auslösen.

Der Übeltäter heisst in Fachkreisen TGF und ist ein Botenstoff, der auf Stress reagiert. Eine wichtige Erkenntnis.

«Wenn ich wochenlang angespannt bin und im Schlaf nie runterfahren kann, verspannen sich nicht die roten Muskelfasern, die man kurzfristig wieder entspannen kann, sondern das weissliche Fasziengewebe», erklärt Robert Schleip. Und findet ein anschauliches Beispiel für das, was Manualtherapeuten dann ertasten können: «Wenn man sich einen Muskel als Wurst vorstellt, ist nicht deren Inhalt hart, sondern die Hülle.»

Überall im Körper miteinander verbunden

Geht es um manuelle Faszientherapie, kommt man um einen Namen nicht herum: Thomas Myers ist Faszienpionier der ersten Stunde und hat das wegweisende Buch «Anatomy Train» verfasst. Von weit her pilgern Therapeutinnen und Therapeuten zu ihm, um sich ausbilden zu lassen.

Er ist sich sicher: Faszien sind überall im Körper miteinander verbunden.

«Wenn jemand zu mir kommt mit einer Entzündung der Plantarfaszie unter der Fusssohle, dann bekomme ich selten die besten Langzeitergebnisse, wenn ich diese Faszie behandle. Eine anhaltende Verbesserung erziele ich eher, wenn ich am Unterschenkel arbeite oder oben am hinteren Oberschenkelmuskel – oder sogar am Hinterkopf oder am Nacken. Weil alles Teil eines einzigen Systems ist.»

Ich muss mir das ganze Modell ansehen, wenn ich den Schmerz wirklich dauerhaft wegbringen will.
Autor: Thomas Myers

Myers ist überzeugt, dass die Faszien, dieses geheimnisvolle Gewebe in unserem Körper, in unzähligen Linien miteinander verbunden sind. Vom Kopf bis zum Fuss, von einer Hand quer über die Schulter zur anderen, sogar spiralförmig durch den ganzen Rumpf. Für ihn steht fest: Wenn es an einer Stelle zwickt, liegt die Ursache meist ganz woanders. «Ich muss mir das ganze Modell ansehen, wenn ich den Schmerz wirklich dauerhaft wegbringen will.»

So populär sein Ansatz ist: Noch fehlt der wissenschaftliche Nachweis für Myers heilsbringende Zuglinien. Dem ist in Frankfurt am Main der Sportwissenschaftler Jan Wilke auf der Spur. Er will herausfinden, ob es die anatomischen Ketten von Myers tatsächlich gibt – oder ob es eher der Glaube daran ist, der zu Ergebnissen führt.

Sechs Linien testet Wilke und konzentriert sich dabei auf die oberflächliche Rückenlinie, für die die beste wissenschaftliche Evidenz vorliegt.

Zum Nachweis der Myerschen Rückenlinie führt Wilke eine Reihe von Experimenten durch. Wenn das Sprunggelenk bewegt wird, müsste sich eigentlich die Faszie im hinteren Oberschenkel mitbewegen. Und tatsächlich: Der Ultraschall zeigt dort ein leichtes Gleiten der Faszie.

Bei weiteren Untersuchungen fand Wilke auch erste Hinweise, dass zwischen Halswirbelsäule und Bein eine Verbindung besteht. Auch wenn noch nicht alle Zuglinien nachgewiesen sind, hat die Arbeit mit einer Faszienrolle am Oberschenkel sicher einen Effekt auf eine weiter entfernte Körperregion – zum Beispiel den Hals.

Audio
Faszientraining: Vielfalt punktet
aus Ratgeber vom 03.05.2021. Bild: Colourbox
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 9 Sekunden.

Noch viel zu lernen

Zusammenfassend: Stress kann Rückenschmerzen auslösen und verschlimmern. Bewegung und Dehnung können verklebtes fasziales Gewebe erneuern und Rückenschmerzen mindestens lindern. Das alles verbindende Gewebe ist der Ort, wo man die Ursache für bestimmte Krankheiten suchen muss – und der Ort, wo Heilung beginnen kann.

Nach Jahren im wissenschaftlichen Abseits rücken die Faszien nun immer stärker in den Fokus der Forschung. In den letzten zehn Jahren wurden überdurchschnittlich viele Studien veröffentlicht. «Wir haben aber auch bei Null begonnen», relativiert Professorin Carla Stecco. «Inzwischen haben wir angefangen, die Anatomie zu verstehen. Wir wissen auch schon etwas über die mikroskopische und die molekulare Ebene – aber wir haben noch so viel zu lernen!»

«Das Thema Faszien darf man nicht isoliert betrachten»

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Daniela Lager spricht mit Florian Brunner, dem Chefarzt für Physikalische Medizin und Rheumatologie an der Zürcher Universitätsklinik Balgrist, über den Stellenwert der Faszien in der medizinischen Praxis.

SRF: Die Forschenden im «Puls Spezial» sagen, man habe das Thema Faszien lange unterschätzt. Ist das so?

Florian Brunner: Die ganze Faszienthematik ist nichts Neues. Was neu ist, sind die modernen Technologien, die es uns erlauben, die Faszien besser auf Funktion und Aufbau zu untersuchen. Und das hat uns wichtige neue Erkenntnisse gebracht.

Hat man nicht schon zu Ihrer Studienzeit das Gefühl gehabt, dass ein Bindegewebe, das doch 20 Kilo Körpergewicht ausmacht, noch grössere Funktionen haben muss?

Ja, das ist richtig. Bis anhin ist man davon ausgegangen, dass die Faszie primär eine Haut ist, die den Muskel umgibt. Aber dank den neuen Erkenntnissen ist unser Verständnis dieser Strukturen viel besser geworden.

Wie wirkt sich das auf den Klinikalltag im Balgrist aus?

Die Faszie spielt in unserer täglichen Arbeit eine wichtige Rolle. Sie ist aber nur einer der möglichen Ansatzpunkte, um Schmerzen am Bewegungsapparat zu behandeln. Das Thema Faszien darf man nicht isoliert betrachten.

Bei unspezifischen Rückenschmerzen wird die Faszienbehandlung als eigentlicher Heilsbringer gehandelt. Damit sind Sie also nicht einverstanden?

Ich teile die Begeisterung. Es ist wirklich sensationell, was sich da tut. Aber es geht jetzt darum, diese Erkenntnisse in den Alltag umzusetzen und zu überprüfen, ob sie sich im Alltag bewähren.

Faszien reagieren stark auf Stress. Verfolgt man diesen Ansatz in der Therapie?

Das ist ein Teil. Grundsätzlich ist es so, dass Stress auf alle Systeme des Körpers Auswirkungen hat. Auf das Herz-Kreislaufsystem, die Muskulatur – da erstaunt es nicht, dass die ganzen Fasziensysteme auch auf Stress reagieren.

Im «Puls Spezial» sind viele spannende Experimente zu sehen. Wie weit sind deren Resultate mit klinischen Studien vergleichbar?

Grundlagenforschung und klinische Studien lassen sich nur indirekt miteinander vergleichen. In der Grundlagenforschung geht es darum, die zugrundeliegenden Prozesse besser zu verstehen. In der klinischen Forschung ist dann das Ziel, die Wirksamkeit der davon abgeleiteten neuen Therapiekonzepte nachzuweisen.

Puls, 03.05.2021, 21:05 Uhr

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