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Urteilsfähig trotz Demenz?

Fachleute empfehlen, früh abklären zu lassen, ob man an Demenz leidet. Doch wird man dann überhaupt noch ernst genommen und gilt weiterhin als urteils- und handlungsfähig? Denn: Trotz Demenz können Erkrankte noch sehr wohl über sich selber entscheiden. Im Extremfall gar bis zum Thema Sterbehilfe.

Experten-Chat

Hans W. merkte früh, dass mit ihm etwas nicht mehr stimmte. Er liess sich untersuchen und hatte darauf die Gewissheit: Er war an Demenz erkrankt. Für den knapp 70-Jährigen war klar: Mit dieser Krankheit möchte er nicht leben und deponierte bei seinen Angehörigen und seinem Hausarzt früh den Wunsch nach einer Freitodbegleitung.

Als die Demenz weiter fortschritt, liess er sich von zwei unabhängigen Gutachtern bescheinigen, dass er in der Frage Freitodbegleitung urteilsfähig ist. Die Ärztin Erika Preisig unterstützte ihn dabei. Sie ist Vizepräsidentin der Sterbehilfeorganisation Lifecircle. «Demente haben genau die gleichen Rechte wie andere. Sie können über ihr Sein und Nicht-Sein selber entscheiden, vorausgesetzt sie sind urteilsfähig», sagt sie.

Bis wann urteilsfähig?

Urteilsfähigkeit misst sich immer an einer bestimmten Handlung. So kann ein Dementer beispielsweise überfordert sein, ein Testament zu schreiben. Er gilt dann in dieser Frage als urteilsunfähig. Auf der anderen Seite aber kann er gleichzeitig als urteilsfähig gelten, wenn es um selbstbestimmtes Wohnen geht, ums Auto fahren oder, wie im Fall von Hans W., um die Frage «Freitod – ja oder nein».

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Bei Hans W. war die Demenz bereits fortgeschritten, er verwechselte zuweilen den Kühlschrank mit dem Kleiderkasten, stieg ins falsche Tram ein, doch bei der Frage Freitod war er bis zuletzt klar und damit urteilsfähig. Am 7. April begleitete ihn Erika Preisig in den Freitod. Vierzehn Tage zuvor wurde er noch einmal von seinem Hausarzt und einem Neuropsychologen getestet und beide bestätigten unabhängig voneinander: Hans W. war weiterhin urteilsfähig.

«Wissen Sie, wie Sie heissen? Wann sind Sie geboren? Wissen Sie, was passiert, wenn Sie dieses Medikament einnehmen?» Erika Preisig stellte Hans W. kurz vor seinem Freitod nochmals die entscheidenden Fragen. «Er wusste ganz genau, was er macht, er wusste, was er will und welche Konsequenzen das hat. Er ist in Bezug auf seinen Todeswunsch garantiert urteilsfähig gewesen», sagt Erika Preisig.

Tests bringen Gewissheit

Demenz heisst nicht automatisch, nie mehr urteilsfähig zu sein. In einem frühen Stadium der Erkrankung sind Demente meist selber noch in der Lage, vieles zu regeln. Wird ihre Urteilsfähigkeit von Aussenstehenden in Zweifel gezogen, lässt sie sich in einem einfachen Test messen – und attestieren.

«Solche Tests sind eine Versicherung, dass der Wille des Patienten auch tatsächlich gilt und niemand kommen kann und sagen: Der hat ja eine Demenz und ist gar nicht mehr in der Lage, dies selber zu entscheiden», sagt Andreas Monsch, Leiter der Memory Clinic am Felix Platter Spital in Basel. Er macht solche Tests und stärkt damit Betroffene und auch deren Angehörige.

Die 69-jährige Corina Christen testet er auf die Frage, ob sie noch alleine zuhause leben kann oder nicht. Selber ist sie überzeugt, dass es noch bestens geht. Sie weiss seit sechs Jahren, dass sie an Demenz erkrankt ist, die Krankheit schreitet bei ihr langsam voran. Sie lebt alleine und selbstständig, fährt gelegentlich Auto und arbeitet immer noch in ihrem früheren Beruf als Übersetzerin und Journalistin.

Ein Netz von Freunden stützt sie im Alltag. Selber merkt sie, dass das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, aber hat sonst den Eindruck, dass sie vieles noch im Griff hat. Trotzdem bleibt für Aussenstehende die Unsicherheit: Können sich Menschen mit der Diagnose Demenz selber richtig einschätzen?

Wille muss ernst genommen werden

Der Test zeigte bei Corina Christen klar: Sie kann es. 20 Minuten lang musste sie alltägliche Fragen beantworten. Wäre ihre Demenz weit fortgeschritten, könnte sie nicht mehr so logisch und präzise antworten, wie sie es tut. «Es freut mich und bestätigt, was ich vorher schon dachte», sagt Corina Christen. Ihr Ziel: So lange wie möglich zuhause bleiben, notfalls will sie dafür Pflegefachpersonen engagieren.

Damit diesem Wunsch auch entsprochen wird, sollte sie einmal nicht mehr selber entscheiden können, hat sie vorgesorgt: mit einer Patientenverfügung und einem Vorsorgeauftrag. Darin hat sie alles klar geregelt. So hat sie die Gewissheit, dass ihr festgehaltener Wille dereinst ernst genommen wird. Denn alles, was aufgeschrieben und beglaubigt worden ist zum Zeitpunkt der Urteilsfähigkeit, das gilt.

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