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Mann hat viele Pillen auf der Handfläche und ist dabei, sie zu schlucken.
Legende: Suizidversuche mit Medikamentenüberdosen gehen häufiger glimpflich aus als solche mit drastischeren Methoden. imago

Warum Menschen sterben möchten

Über 1000 Menschen haben sich 2012 in der Schweiz das Leben genommen. Was geschah, als diese 752 Männer und 285 Frauen den Entschluss fassten, ergründet Psychiater Konrad Michel vom Kompetenzzentrum für Suizidforschung und -prävention in Bern.

Zwar ist die Zahl kontinuierlich abnehmend – 1037 Menschen starben 2012 durch Suizid, im Jahr 2002 waren es noch über 1400 –, doch die Selbsttötung bleibt weiterhin ein Problem in der Schweiz. Denn bis zu 20 Mal höher liegt die Zahl derer, die es versucht haben, aber überlebten.

Immerhin: In den letzten Jahrzehnten hat sich in die Hirnforschung viel getan. Man versteht heute besser, was bei Menschen kurzzeitig die Vernunft ausschalten lässt – denn diejenigen, die ihren Suizid von langer Hand auf einen bestimmten Termin hin planen, sind eindeutig in der Minderzahl.

Viel häufiger fällt der Entschluss innerhalb weniger Stunden oder sogar Minuten. «Man kann heute anhand der Aktivierung der Hirnareale zeigen, dass der suizidale Zustand ein Ausnahmezustand ist, ein extremer Stresszustand des Gehirns», erklärt Psychiater und Psychotherapeut Konrad Michel, der seit vielen Jahren auch zur Suizidalität forscht.

In diesem Ausnahmezustand nehmen die emotionalen Impulse Überhand, im Gegenzug nimmt die Steuerung der emotionalen Impulse ab. Das geschieht normalerweise in der Hirnrinde im frontalen Bereich. Patienten berichten dann fast immer, so erzählt Konrad Michel, dass sie in der kurzen Zeit vor dem Suizidversuch in einem fast tranceähnlichen Zustand waren, dass sie keine Angst hatten, dass der Akt dann wie automatisch vor sich ging, «im Autopilot-Modus, wie wir sagen.»

Zur Person

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Legende: Konrad Michel

Dr. Konrad Michel ist Facharzt für Psychiatrie und Psychologie an der Universitätsklinik und Poliklinik für Psychiatrie in Bern. Hier arbeitet und forscht er zudem am Kompetenzzentrum für Suizidforschung und -prävention.

Menschen, die beispielsweise einen Sprung überlebt haben, berichten, dass ihnen erst im Moment des Schrittes ins Leere bewusst geworden ist, was sie da eigentlich getan haben. Auf einen Schlag stellte sich dann der Normalzustand wieder ein, als würden sich die Menschen neutral von aussen beobachten.

Männer besonders gefährdet

Besonders Männer – junge wie ältere – sind suizidgefährdet. Über die Gründe kann auch Konrad Michel nur spekulieren: «Wenn Männer Probleme haben, haben sie eher die Tendenz, sich zurückzuziehen und nicht zu reden – das ist das grosse Problem seit eh und je. Dazu kommt, dass Männer häufiger Mittel zum Suizid verwenden, die tödlich sind – wie Schusswaffen, Springen oder Erhängen.»

Auch Scham sei ein wesentlicher Faktor: Junge Männer würden sich seltener an ihre Eltern oder Freunde wenden und fänden schlichtweg einfach den Weg nicht zu Menschen, denen sie sich anvertrauen können. Frauen versuchen dagegen eher, mit Medikamentenüberdosen ihrem Leben ein Ende zu setzen und überleben dies oft auch. Für sie brachten häufig zwischenmenschliche Konflikte das Fass des Erträglichen zum Überlaufen.

Auch wenn die Dosis oder das Medikament nicht tödlich waren: Jeder noch so vage Versuch muss ernst genommen werden. Denn das Risiko für Wiederholungstaten ist für alle erhöht, die einen Suizidversuch überlebt haben.

«Es gibt Menschen, die beschreiben mir, wie sie am Samstagmorgen zeitunglesend am Tisch sitzen, und plötzlich kommt dieser Gedanke. Ich hatte eine Patientin, die einfach in den fünften Stock gestiegen und zum Fenster hinausgesprungen ist, nachdem ihr Sohn die Wohnung verlassen hatte – aus einem einschiessenden Gedanken heraus. Aber: Das sind Menschen, die schon vorher einmal einen Suizidversuch gemacht haben. Da braucht es sehr wenig, und plötzlich ist dieser Impuls wieder da», sagt Konrad Michel.

Bei Menschen, die schon einen Suizidversuch hinter sich haben, braucht es sehr wenig, und plötzlich ist dieser Impuls wieder da
Autor: Konrad Michel

Der Grund: Liegt bereits ein Suizidversuch zurück, ist die Selbsttötung als Lösung eines Zustands im Gehirn gespeichert und kann jederzeit wieder bei einer veränderten Hirnaktivität in Gang gesetzt werden. Das Suizidrisiko bleibt also lange Zeit weiter hoch.

Wenig Nachbetreuungsangebote

Umso erstaunlicher ist es für Konrad Michel, dass es in der Schweiz nur in Bern eine Spezialsprechstunde für Menschen nach einem Suizidversuch gibt. «Vielleicht hat das mit der Einstellung in der Schweiz dem Suizid gegenüber zu tun: Es herrscht die Meinung, Suizid sei der freie Entscheid des Einzelnen und ist nicht primär ein Gesundheitsproblem. Ich sehe das aber völlig anders.»

Überlebende sind rückblickend oft selbst erschüttert über den Ausnahmezustand, in den sie geschlittert sind – einen solchen Kontrollverlust könne man nicht mit einem freien Entscheid des Einzelnen gleichsetzen. Zudem sähen die meisten Patienten gar keinen Grund mehr für Suizid, wenn es ihnen nach der Behandlung wieder besser geht.

Am besten aber, es würde erst gar nicht so weit kommen. Angehörige und Freunde können oft gar nicht ahnen, was sich in einem suizidgefährdeten Menschen anbahnt. Es gibt zwar Indikatoren wie Konzentrations- oder Schlafprobleme, Energieverlust oder Rückzug, «aber da würden wir nicht unbedingt sofort daran denken, dass sich dieser Mensch gleich umbringen will», gesteht auch Konrad Michel.

Es herrscht die Meinung, Suizid sei der freie Entscheid des Einzelnen und ist nicht primär ein Gesundheitsproblem.
Autor: Konrad Michel

Sollte der Verdacht aufkommen, ermuntert der Psychiater dazu, immer wieder das Gespräch zu suchen, denn die Angst, damit erst Suizidgedanken zu schüren, sei völlig unbegründet.

Verantwortung kommt auch den Medien zu: Sensationsberichte über Suizid können Nachahmungshandlungen auslösen. Auch die Verfügbarkeit der Mittel einzuschränken ist eine bereits praktizierte Massnahme, deren Effekt wissenschaftlich bestätigt ist. Netze an bekannten Brücken können so Leben retten, Zäune die Zugänge zu Gleisen versperren.

Problematisch bleibt der leichte Zugang zu Schusswaffen in der Schweiz: Die Rate von Schusswaffensuiziden ist im internationalen Vergleich in der Schweiz besonders hoch.

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Wirksame Kurztherapie

Konnten all diese Massnahmen den Suizidversuch nicht verhindern, beginnt für die Überlebenden eine Zeit der Therapie. In welcher Form, ist individuell sehr verschieden. Es hat sich erstaunlicherweise aber gezeigt, dass sehr intensive Therapien nicht wirkungsvoller waren als Kurztherapien.

In Bern arbeitet Konrad Michel mit seinen Kollegen beispielsweise erfolgreich mit einem Kurzprogramm: In einer ersten Sitzung muss der Patient schildern, wie es zum Suizidversuch gekommen ist. In den kommenden Sitzungen geht es dann eher darum, Strategien für die Zukunft zu entwickeln. Zwei Jahre lang erhält der Patient dann regelmässig Post nach Hause.

Kommt ein Patient trotzdem in eine Krise und helfen auch die erarbeiteten Strategien nicht weiter, weiss er, wo er fachliche Hilfe bekommt. Denn: «Suizidalität kann man nicht wegtherapieren», warnt Konrad Michel.

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