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Zu hoher Antibiotikaeinsatz in der Schweiz

Fast 6 Millionen Antibiotika-Packungen werden in der Schweiz jährlich verschrieben. Eine Abnahme ist nicht in Sicht, obwohl die Problematik der resistenten Bakterien Ärzten wie Patienten bewusst ist. Der Bund versucht mit der «StAR»-Strategie gegen die resistenten Keime anzugehen – aber reicht das?

Antibiotikaresistenzen nehmen weltweit mit epidemischer Dynamik zu. Sie gefährden die Behandlung von schweren Infektionen beim Menschen und verursachen erhebliche Kosten durch erhöhte Sterblichkeit, verlängerte Krankheit, verlängerten Spitalaufenthalt, teure Behandlung (Antibiotika, Chirurgie etc.) und Isolationsmassnahmen.

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Besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen sind Kinder, ältere Personen, Personen mit Grundkrankheiten und hospitalisierte Patienten generell. Eine Ausweitung auf den ambulanten Bereich und die gesamte Bevölkerung zeichnet sich aber ab.

Resistenzen – gekoppelt mit dem Antibiotikaverbrauch

Jedes Mal, wenn Antibiotika eingesetzt werden, können resistente Bakterien überleben, von der Beseitigung der anfälligen Bakterien profitieren und sich somit weiter ausbreiten.

Entwicklung von Resistenzen
Legende: BAG

Einschränkung von Antibiotika – alle sind gefordert – niemand will die Verantwortung übernehmen (Beratungsresistente Ärzte)

In der Schweiz ist die Datenlage, welcher Arzt wie viel Antibiotika einsetzt, sehr schwach. Nur einige Spitäler melden freiwillig, wie viel Antibiotika eingesetzt wird. Dies will die «StAR»-Strategie des Bundes ändern. Unter anderem mit vier Punkten beim sachgemässen Antibiotika-Einsatz:

  • Richtlinien zur Verschreibung, Abgabe und Anwendung von Antibiotika entwickeln und Umsetzung sicherstellen
  • Verschreibung, Abgabe und Anwendung von Antibiotika einschränken
  • Zugang zu Fachexpertise erleichtern
  • Massnahmen bei überdurchschnittlich hohem Antibiotikaeinsatz entwickeln

Doch wie die einzelnen Punkte ganz genau umgesetzt werden sollen, ist unklar. Ob die Rückmeldungen zum Antibiotikaeinsatz auch was bringen, ist ebenfalls fraglich, wie eine Untersuchung von Epidemiologe Heiner Bucher und seinem Team zeigt.

Feedback bringt keine Änderung

Für ihr Vorhaben suchten sie aus Krankenkassendaten jene 2900 Grundversorger heraus, die in der Vergangenheit am meisten Antibiotika pro 100 Patientenkonsultationen verschrieben hatten. Diese Ärzte teilten sie nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen auf. Die eine erhielt während zweier Jahre alle drei Monate per Post ein Feedback zu ihrer Verschreibungspraxis, die andere nicht. Die Hoffnung, dass der generelle Antibiotikaverbrauch zurückgeht, wurde aber enttäuscht.

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Zudem hatten sich 15 Prozent der angeschriebenen Hausärzte geweigert, bei der Interventionsgruppe überhaupt mitzumachen. Eine weitere Untersuchung von Heiner Bucher zeigte ebenfalls: 20 bis 50 Prozent der Antibiotikaverschreibungen sind überflüssig.

Viele Ausflüchte

Warum wissen es die Ärzte nicht besser? Das erste Argument, welches während der «Puls»-Recherche immer wieder aufgeführt wurde: «Die Patienten wollen Antibiotika». Dann fallen Aussagen wie: «Wenn ich ihm kein Antibiotikum gebe, dann hat der Patient das Gefühl, ich sei ein schlechter Arzt». Und Stimmen werden laut: «Mit dem neuen Tarmed-Tarif haben wir noch weniger Zeit, den Patienten aufzuklären, warum er kein Antibiotikum nehmen muss».

Auf die Frage, warum in den Westschweizer Kantonen und im Tessin mehr Antibiotika abgegeben werden als in der Deutschschweiz, heisst es: «Das ist eine Mentalitätsfrage, eine persönliche Einstellung».

Fazit der «Puls»-Recherche: Mit Evidenz hat das nichts zu tun, und kein Patient bekommt Antibiotika, wenn der Arzt sie nicht abgibt. Schlussfolgerung: Das Abgeben ist halt einfacher als das «Nicht-Abgeben».

Schwierige Diagnose

Die klare Diagnose ist für den Arzt allerdings auch nicht einfach zu treffen. Denn es gibt keinen Schnelltest, um zuverlässig abzuklären, ob wirklich Antibiotika eingesetzt werden müssen, beziehungsweise welches Antibiotikum angebracht ist.

  • Der Hausarzt hat zwar die Möglichkeit des CRP-Tests (Capsel-reaktives Protein). Der misst die Konzentration einer Gruppe von Proteinen im Blut, die bei einer entzündlichen Krankheit ansteigt. Aber das Resultat alleine ist nicht aussagekräftig genug, da es auch bei einem Virusinfekt oder einer Schwangerschaft mässig erhöht sein kann. Der Test liefert Hinweise auf den Schweregrad einer Entzündung – eine sichere Unterscheidung zwischen viralen und bakteriellen Infektionen ist anhand des CRP-Wertes aber nicht möglich.
  • Ein weiterer Test ist mit dem Infektionsmarker PCT (Prokalzitonin) möglich. Es misst die Vorstufe eines Schilddrüsenhormons, welches bei Gesunden kaum nachweisbar ist und bei einer bakteriellen Entzündung ansteigt. Dieser Test wird vor allem im Spital durchgeführt, da er in einem grösseren Labor ausgewertet werden muss. Kostenpunkt: 80 Franken, also gut vier Mal mal teurer als eine Antibiotikatherapie. Darum wird er nur sehr selten im ambulanten Bereich eingesetzt. Ziel der Forschung ist es, einen neuen, schnelleren und vor allem zuverlässigeren Schnelltest für den Hausarzt zu entwickeln.

Problematische Infrastruktur

Ein letzter Punkt, warum es so schwierig ist, genau zu definieren, wer wie viel Antibiotika einsetzt: die vielen verschiedenen Computersysteme. «Sogar im selben Spital gibt es nicht das gleiche System, ein Austausch ist praktisch nicht möglich oder mit viel Aufwand verbunden», erklärt Andreas Widmer, Infektiologe am Universitätsspital Basel. «Hier müsste man mit Zwang ein System einführen, damit man sieht, wer wie viel Antibiotika und bei welcher Diagnose eingesetzt hat.»

Bis jetzt ist der Antibiotika-Einsatz in der Humanmedizin noch nicht gesunken. Ob die Strategie-Massnahmen des Bundes da wirklich greifen, wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen.

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