Atemübungen, Ohrmassagen, Summen, Gurgeln – oder ein Eisbad fürs Gesicht. Und schon ist der sogenannte «Supernerv» stimuliert. Zumindest, wenn man den zahlreichen Posts auf Social Media glaubt. Und wer sich darauf einlässt, darf sich über nichts weniger als tiefe Entspannung, innere Ruhe und bessere Gesundheit freuen.
Ein Versprechen, das nicht von ungefähr kommt. Schliesslich ist der Vagusnerv der Hauptnerv des Parasympathikus. Also desjenigen Teils des Nervensystems, der für Regeneration, Ruhe und Verdauung sorgt.
Während der Vagusnerv derzeit die Sozialen Netzwerke erobert, ist er in der Klinik bereits in den 90er-Jahren angekommen. Damals wurde die Vagusnervstimulation zur Behandlung therapieresistenter Epilepsie zugelassen. Und dabei fiel eine interessante Nebenwirkung auf: ein stimmungsaufhellender Effekt.
Seit den 2000ern kommt die Vagusnervstimulation teils auch bei Depressionen zum Einsatz. Und weil die Wirkungen des Nervs so weitreichend sind, sind es auch die aktuell untersuchten Behandlungsgebiete: von Migräne, Demenz, Long Covid – bis hin zu Adipositas.
So wirkt der Vagusnerv auf unsere Organe
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Bild 1 von 4. Der Vagusnerv versorgt die Muskulatur von Rachen und Kehlkopf. Das macht ihn fürs Schlucken, Sprechen und Singen unabdingbar. Zudem vermittelt er Würgereflexe. Stellt also sicher, dass unsere Atemwege frei bleiben. Bildquelle: SRF.
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Bild 2 von 4. Am Herzen wirkt der Vagusnerv wie eine Bremse: Er verlangsamt den Herzschlag. Gleichzeitig bewirkt er kleine Schwankungen im Herzrhythmus, erhöht also die Herzratenvariabilität. Ein Zeichen für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit. Bildquelle: SRF.
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Bild 3 von 4. In der Lunge steuert der Vagusnerv nicht nur Muskelspannung und Schleimproduktion, sondern nimmt auch eine wichtige Schutzfunktion ein: Gelangt zum Beispiel Staub oder Rauch in die Atemwege, löst der Vagusnerv einen Hustenreflex aus. Bildquelle: SRF.
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Bild 4 von 4. Indem der Vagusnerv Informationen aus Magen und Darm ans Gehirn sendet, sorgt er für Hunger, Sättigung und regt die Verdauung an. Kommt es zu Reizungen kann der Nerv auch für Übelkeit oder Erbrechen sorgen. Bildquelle: SRF.
Auch in der Schweiz kommt die Vagusnervstimulation bei Epilepsie-Patientinnen und -Patienten zum Einsatz. So zum Beispiel am Inselspital Bern, wo die Neurologin Cecilia Friedrichs-Maeder tätig ist. Im Gegensatz zu den Influencerinnen und Influencern verwendet sie für die Stimulation allerdings eine invasive Methode: Ein Implantat stimuliert den Nerv im Halsbereich.
Auf die Versprechen auf Social Media angesprochen, zeigt sich Friedrichs-Maeder sehr zurückhaltend. «Ich zweifle nicht einmal daran, dass sich der Vagusnerv mit diesen Übungen stimulieren lässt.» So sei beispielsweise belegt, dass langsames, kontrolliertes Ausatmen den Nerv stimulieren könne. Das Problem sieht sie vielmehr in der kurzen Dauer der Übungen.
Warum 15 Minuten nicht reichen
Bei ihren Patientinnen und Patienten stimuliert die Neurologin im Minutentakt – Tag und Nacht. «Und selbst da sind die Effekte nicht bahnbrechend.» Falls überhaupt, wirke die Stimulation erst nach mehreren Monaten. Und: Höre man mit der Stimulation auf, verschwinden auch die Effekte.
«Daher bezweifle ich, dass sich eine 15-minütige Atemübung langfristig positiv aufs Gehirn und damit aufs Wohlbefinden auswirkt.» Wenn das Gehirn nämlich einmal aus seiner Balance gerät, lässt sich diese nicht so leicht wiederherstellen.
Nun gelangen zunehmend auch kostspielige Lifestyle-Geräte zur Vagusnervstimulation auf den Markt, die eben dies versprechen. Sie nutzen angeblich spezifische therapeutische Mechanismen, um Dysregulationen im Nervensystem entgegenzuwirken und den Gesundheitszustand zu verbessern.
Bei den Vagusnervstimulationen, die auf Social Media propagiert werden, sehe ich an sich kein Risiko
Fakt ist: Bis heute ist keines dieser Geräte für Behandlungen zugelassen. Wer sich trotzdem für einen Kauf entscheidet, dem rät Friedrichs-Maeder auf die C-Zertifizierung zu achten. Bei diesen Produkten sei zumindest die Sicherheit geprüft.
«Bei den Vagusnervstimulationen, die auf Social Media propagiert werden, sehe ich an sich kein Risiko», so die Neurologin. Und auch wenn sie sich davon keinen langfristigen Effekt verspricht, sieht sie zumindest einen kurzfristigen: Indem man sich Zeit für sich selbst nehme, könne man das Stresslevel senken. Wer sich mit Eiswasser allerdings nicht so wohlfühlt, erreicht einen vergleichbaren Effekt wohl auch mit einem Spaziergang im Freien.