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Verlangsamte Erdrotation Schmelzendes Eis sorgt für längere Tage

Eine neue Studie zeigt: Das Abschmelzen des Eises in Grönland und in der Antarktis verlangsamt die Erdrotation. Das hat Folgen für unsere Zeitmessung und könnte Computer-Probleme zumindest verzögern.

Warum beeinflusst der Klimawandel die Geschwindigkeit der Erdrotation? Wegen der vom Menschen verursachten Klimaerwärmung schmelzen die Eisschilde in Grönland und in der Antarktis ab. Dadurch wird enorm viel Masse umverteilt. Denn wenn das Eis schmilzt, breitet sich das Wasser in den Ozeanen aus und fliesst vermehrt zum Äquator. Dadurch erhöht sich das Trägheitsmoment, wodurch die Erde langsamer dreht. Diesen Effekt hat der Geophysiker Duncan Agnew untersucht und kürzlich seine Ergebnisse im Fachmagazin Nature veröffentlicht.

Wasserfläche mit Eisbrocken
Legende: Das Abschmelzen der Gletscher, hier in Grönland, ist eine enorme Umverteilung der Masse. IMAGO / Bo van Wyk

Gibt es ein anschauliches Beispiel aus dem Alltag dazu? Vielleicht haben Sie auch schon mal eine Pirouette gemacht. Wenn Sie die Arme nach oben ausstrecken – also in der Linie der Rotationsachse halten, oder die Hände nah an den Körper nehmen, drehen Sie schnell. Senken Sie die Hände jedoch und strecken sie seitwärts aus, verlangsamt sich die Drehgeschwindigkeit. Diesen Effekt hat auch das schmelzende Eis, indem das Schmelzwasser von den Polen wegfliesst. Salopp gesagt, bremst diese Umverteilung der Masse die Pirouette der Erde ab.

Frau macht Pirouette
Legende: Wenn eine Eiskunstläuferin oder ein Eiskunstläufer eine Pirouette dreht und die Arme vom Körper wegstreckt, verlangsamt sich die Drehung. Einen ähnlichen Effekt hat das schmelzende Eis auf die rotierende Erde. IMAGO / Golovanov + Kivrin

Wie hat der Studienautor die Auswirkungen der Eisschmelze nachgewiesen? Dank Satelliten, die Veränderungen im Gravitationsfeld gemessen haben. In seine Studie flossen Daten der letzten 50 Jahre ein. Es ist das erste Mal, dass dieser Effekt anhand aktueller Daten nachgewiesen wurde. Davor waren es nur hypothetische Annahmen.

Wie lange braucht die Erde, für eine Umdrehung um die eigene Achse? Einen Tag. Wie lange diese Rotation exakt dauert, variiert jedoch um bis zu einer Millisekunde. Deswegen muss die koordinierte Weltzeit (UTC) immer mal wieder angepasst werden – mittels einer Schaltsekunde. Sie gleicht die Zeit aus, die die Weltzeit der an die Erdrotation gebunden astronomischen Zeit hinterherhinkt.

Ticktack: Die Erfassung der koordinierten Weltzeit

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Seit den 1950er Jahre wird die Zeit einerseits dank der Vibrationen einer bestimmten Art von Atomen gemessen. Ein Tag entspricht 86400 Sekunden einer Atomuhr. Heute sind ungefähr 450 Atomuhren über den ganzen Globus verstreut. Sie geben die Uhrzeit vor, die in unseren Uhren tickt – also die Universalzeit (UTC).

Anderseits wird die Zeit gemessen, die die Erde braucht, um sich um die eigene Achse zu drehen. Diese wird auch astronomische Zeit genannt. Um diese beiden Zeiten aneinander anzugleichen, wurden seit 1972 insgesamt 27 Schaltsekunden hinzugefügt. Und das in unregelmässigen Abständen. Im Jahr 2016 wurde als letztes eine Schaltsekunde hinzugenommen.

Warum ist nun die Rede von einer negativen Schaltsekunde? Die Geschwindigkeit der Erdrotation schwankt. Insgesamt dreht sich die Erde seit der Einführung der koordinierten Weltzeit langsamer. Gleichzeitig findet aber in jüngerer Zeit das Gegenteil statt. Komplexe Prozesse im flüssigen Erdkern führen dazu, dass sich die Erde schneller dreht. Das veranlasste Wissenschaftler zur Annahme, dass erstmals eine negative Schaltsekunde eingeführt werden müsste. Also, dass eine Sekunde weg - statt wie bisher hinzugenommen werden müsste.

Rätselhafte Prozesse im Erdinnern

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In einer Tiefe von 3000 bis 5000 Kilometer ist der Erdkern flüssig. Im Innersten ist die Erde dann wieder fest. Im äusseren, flüssigen Erdkern sind komplexe Prozesse im Gang, die die Rotationsgeschwindigkeit der Erde massgeblich beeinflussen.

Diese Strömungen im Erdkern erzeugen das Erdmagnetfeld und bewegen sich unregelmässig. Tendenziell haben sich die Bewegungen des Kerns in den letzten ungefähr 50 Jahren verlangsamt. Das hat wiederum die darüber liegende feste Erdoberfläche beschleunigt. In der Physik nennt man dies Übertragung von Drehimpuls. Wenn zwei Teile miteinander verbunden sind, aber unabhängig voneinander drehen können, kann sich der gesamte Drehimpuls nicht ändern. Dreht also der innere Kern langsamer, wird die Rotationsgeschwindigkeit der Erde schneller, um das Gleichgewicht zu halten.

Viele dieser Prozesse im Erdinneren können aber nur geschätzt werden. Forschende wissen nicht, warum sich der Kern verlangsamt hat und was in Zukunft darin passieren wird.

Wirkt die Klimaerwärmung diesem Trend entgegen? Ja, das Abschmelzen des Eises bremst die beschleunigte Drehung des Planeten aus. Laut der Studie hat das zur Folge, dass nicht wie angenommen bereits im Jahr 2026 eine negative Schaltsekunde eingeführt werden müsste, sondern drei Jahre später. Auch wenn es nur um Sekunden geht, zeigt sich daran, welche massiven Veränderungen der Klimawandel mit sich bringt, schreibt Duncan Agnew auf Anfrage. «Es ist eine spürbare Auswirkung auf einer Skala von Jahren bis Jahrzehnten.»

Nahaufnahme eines Uhrwerks
Legende: Diskussion um Schaltsekunden – Fluch oder Segen? Laut der internationalen Generalkonferenz für Mass und Gewicht sollen ab 2035 keine weiteren Schaltsekunden eingesetzt werden. IMAGO / Shotshop

Welche geophysikalischen Prozesse tragen dazu bei, dass sich die Rotationsgeschwindigkeit verändert? Es gibt viele komplexe Vorgänge - einige führen zu einer Beschleunigung, andere zu einer Verlangsamung. Letzteres bewirkt unter anderem die sogenannte Gezeitenreibung, die durch die Gravitationskräfte von Sonne und Mond verursacht wird. Ein weiteres Beispiel: Auch Winde und Erdbeben haben grosse Auswirkungen auf die Rotationsgeschwindigkeit.

Warum Schaltsekunden zu Problemen führen können

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Schaltsekunden sind nicht vorhersehbar und werden in unregelmässigen Abständen eingeführt. Sie sind zwar in Computersysteme integriert, führen aber trotzdem manchmal zu technischen Problemen. Beispielsweise sorgte im Jahr 2012 eine Schaltsekunde zu einem grossen Facebook-Ausfall. Auch viele andere Systeme sind darauf angewiesen, zu wissen, wie spät es ist. Unter anderem die Börse und Stromnetze.

Würde eine negative Schaltsekunde Chaos verursachen?

Viele Computerprogramme gehen davon aus, dass alle Schaltsekunden positiv sind. Diese Programme müssten umgeschrieben werden, um eine negative Schaltsekunde zu berücksichtigen. Jedoch wurde das noch nie probiert oder getestet. Das könnte zu Schwierigkeiten führen, schreibt der amerikanische Geophysiker Duncan Agnew.

Seine Studie zeigt, dass die eine negative Schaltsekunde erst 2029 nötig sein wird. Das ist drei Jahre später als bisher angenommen. Und verschiebt damit mögliche Probleme hinaus. Ab 2035 soll ganz Schluss sein mit Schaltsekunden, beschloss die Generalkonferenz für Mass und Gewicht. Das würde dazu führen, dass die beiden Zeitskalen, also die koordinierte Weltzeit und die astronomische Zeit, um mehr als eine Sekunde nicht mehr synchron sind. Für Wissenschaftler klar messbar, für den Durchschnittsbürger wahrscheinlich nicht spürbar.

Wissenschaftsmagazin, 30.03.2024, 12:40 Uhr

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