Es gibt sie, die Höhepunkte in Marisa Jaconis wissenschaftlicher Karriere. Zum Beispiel als sie jenen Mann, der 2004 das Referendum gegen das Stammzellenforschungsgesetz ergriffen hat, in ihr Labor einlädt.
«Der Mann war sehr glücklich, als er unter dem Mikroskop menschliche Herzzellen erblickte, die aus embryonalen Stammzellen hervorgegangen waren», erzählt die heute 56-Jährige.
Auch Journalisten aus katholischen Kreisen habe sie überzeugen können: Forscherinnen wie sie haben nichts zu verbergen. Sie haben nichts Ungesetzliches vor.
Mit Mäusen begonnen
Marisa Jaconis Geschichte beginnt Mitte der 1990er-Jahre mit einer grossen Idee. Sie arbeitet damals in ihrem Labor des Universitätsspitals Genf mit Mäusestammzellen. Sie will isolierte Herzmuskelzellen entwickeln – ohne dafür ständig Mäuse töten zu müssen.
Das Herz ist das erste Organ eines Säugetier-Embryos. Jaconi und ihr Team wollen mehr über diese ersten Entwicklungsschritte herausfinden: Wie sich totipotente, also die Alleskönner unter den Stammzellen, zu Herzstammzellen entwickeln. Wie sich daraus schliesslich das Herz formt.
Dann erscheint Ende 1998 in «Science» der legendäre Artikel des Zellbiologen James Thomson. Der Amerikaner hat es als Erster geschafft, aus sieben Tage alten menschlichen Blastozysten, einer Vorstufe von Embryonen, eine Stammzelllinie zu züchten.
Es ist der Startschuss für die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Forscherinnen und Forscher rund um die Welt wollen mit Thomsons Zellen arbeiten – auch Marisa Jaconi und ihre Mitarbeitenden in Genf.
2001 beantragt Jaconi beim Schweizerischen Nationalfonds (SNF) als erste hierzulande, solche Zellen importieren zu dürfen.
Das Gesuch, das alles in Gang bringt
Dem Nationalfonds bereitet das Gesuch Kopfzerbrechen. Mit embryonalen Zellen zu forschen, menschliche Embryos für die Forschung zu «verbrauchen» – diese Idee entfesselt eine gesellschaftliche Debatte und reisst tiefe Gräben auf.
Auf der einen Seite stehen jene, für die der Schutz des werdenden Lebens heilig ist. Auf der anderen Seite diejenigen, die sich von dieser Forschung viel versprechen.
Der Nationalfonds folgt schliesslich den Befürwortern. Er unterstützt Jaconis Projekt mit einem grundsätzlichen Ja und begründet dieses mit dem «enormen Potenzial für Therapien von Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Herzinfarkt», welche die embryonale Stammzellforschung berge.
Allerdings ist das Ja an Bedingungen geknüpft. Eine davon ist, embryonale Stammzellen aus der gesetzlichen Grauzone zu holen. Ein Gesetz muss her, und zwar schleunigst.
Als Forscherin Gesicht zeigen
In nur zwei Jahren stampfen die Politiker eine Vorlage aus dem Boden und jagen diese durchs Parlament. Nur Monate später kommt gegen das Gesetz aus kirchennahen Kreisen ein Referendum zustande.
Marisa Jaconi stürzt sich mit Verve in die Überzeugungsarbeit. Sie nutzt jede Bühne, scheut keinen Gang an die Öffentlichkeit, gibt unzählige Interviews.
«Es war für mich als Wissenschaftlerin unglaublich, das Labor zu verlassen und diesen Diskurs zu führen: mit Politikern, Leuten von der Strasse, Journalisten, und auch mit anderen Forschern», sagt sie.
Drei Jahre lang weibelt Marisa Jaconi öffentlich für die embryonale Stammzellforschung. «Ich fand das wichtig», sagt sie. «Niemand sonst hat in dieser Sache das Gesicht gezeigt und so viel Zeit investiert.»
Förderung mit Vorgaben
Ende 2004 stimmen die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger dem Stammzellforschungsgesetz klar zu. Nun pickt sich Marisa Jaconi die denkbar schwierigste Aufgabe heraus: Sie will Stammzellen nicht mehr nur importieren. Sie will auch eigene Stammzellen züchten: aus sogenannt überzähligen Embryonen, die noch in den Schweizer Fruchtbarkeitskliniken aus alten Befruchtungszyklen lagern.
«Wir fühlten uns unter Druck, uns um diese Embryonen zu kümmern, etwas Sinnvolles aus ihnen zu schöpfen», erzählt sie. Denn andernfalls wären diese früher oder später im Abfall gelandet.
Für ihr Projekt erhält Jaconi im August 2006 vom Schweizerischen Nationalfonds 350'000 Franken in zwei Tranchen zugesprochen. Das vereinbarte Ziel lautet: innerhalb von acht Monaten zwei Zellinien zu entwickeln.
Jaconi und ihr Team machen sich an die Arbeit. Sie holen 200 Embryonen aus den Tiefkühlern nach Genf und tauen sie auf, immer zwei oder drei aufs Mal. Jedem Versuch folgt die Ernüchterung auf dem Fuss: Die Embryonen sind schlecht konserviert worden und erweisen sich als unbrauchbar.
«Als ungenügend beurteilt»
Marisa Jaconi bleibt dran. Sie schafft es, aus einer befruchteten Eizelle im Vierzellstadium eine Zelllinie zu entwickeln. Eine einzige – immerhin! Andere Forscher brauchten für ihre erste Stammzellinie vier Jahre. Doch Jaconi muss, um die Projektvorgaben zu erfüllen, zwingend eine zweite Linie vorweisen können, und zwar bald.
Schon nach sechs Monaten, zwei Monate vor der vereinbarten Frist, besucht eine Delegation des Nationalfonds' Jaconis Labor. Das Ergebnis: Jaconis Projekt wird im April 2007 vom Nationalfonds gestoppt, das Geld gekürzt.
«Projektfortschritt und Zusammenarbeit der beteiligten Forschenden wurden damals als ungenügend beurteilt», schreibt der Nationalfonds auf Anfrage von SRF.
Jaconi wehrt sich – erfolglos. Die Würfel sind gefallen. Von einem Tag auf den anderen spielt sie bei der Stammzellforschung der Schweiz nicht mehr in der vorderen Liga mit.
Private Fördermittel für abnorme Zelllinie
Jaconi machte auf eigene Faust weiter. Sie findet private Geldgeber, um ihre Zelllinie an der Uni Genf weiterzuentwickeln. Dort stellt sich heraus, dass die Stammzellen, die sie gezüchtet hat, abnorm sind. Sie enthalten viele Trisomien, also drei anstatt zwei Chromosomen.
Auf den ersten Blick ein weiterer Fehlschlag. Auf den zweiten Blick interessant: Denn Trisomie 21, die zum Down Syndrom führt, ist häufig gekoppelt mit Herzfehlern. Diesen Zusammenhang will Jaconi näher erforschen.
Sie hat Erfolg: Jaconi kann zeigen, welche Gene bei Trisomie 21 zu einem Herzfehler führen. Darauf sei sie sehr stolz, sagt sie.
Sonst aber bleibt ihre Publikationsliste eher bescheiden. Ihre eigene wissenschaftliche Karriere nimmt nach dem abrupten Stopp ihres Nationalfonds-Projekts nie mehr richtig Fahrt auf.
«Keep cool and carry on»
«Meine Bilanz ist trotz allem positiv», beteuert Marisa Jaconi im Rückblick. «Aus dem Wenigen habe ich das Maximum herausgeholt.» In der Forschung müsse man kämpfen. Und weitermachen.