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80 Jahre Kriegsende Vergessene Täterinnen: Wie Frauen an der NS-Euthanasie mitwirkten

Im Dritten Reich begingen die Nazis im Namen der von ihnen propagierten «Rassenhygiene» schreckliche Verbrechen, dabei spielte die Medizin eine zentrale Rolle. Was bisher wenig bekannt ist: Dies war keine reine Männersache, auch zahlreiche Ärztinnen machten bei den Gräueltaten mit.

Zum Beispiel Lotte Albers: Nach mehreren unbezahlten Stellen wurde die Ärztin im April 1940 in einem Hamburger Kinderspital angestellt. Dort wurde sie für die «Aktion T4» eingespannt, die erste Tötungswelle von Hitlers 1939 lanciertem «Euthanasieprogramm». Lotte Albers soll mindestens 14 behinderte Kinder getötet haben.

Wie die Ärzteschaft die «Rassenhygiene» vorantrieb 

Ärzte waren während des Dritten Reichs die zentralen Akteure der von den Nazis propagierten «Rassenhygiene». Sie halfen systematisch mit, den «deutschen Volkskörper» von «unwertem Blut», wie sie es nannten, zu säubern. Zunächst mit Massensterilisationen, später mit gezielten Tötungen von Erwachsenen und Kindern, die als «genetisch minderwertig» klassifiziert wurden.

Das Töten behinderter Kinder besorgten die «Kinderfachabteilungen» von Spitälern und Irrenanstalten: Die Ärzte liessen die Kinder entweder verhungern oder spritzten ihnen gezielt eine Überdosis Medikamente. 

Doch nicht nur Männer waren Täter. Gerade in die sogenannten Krankenmorde waren sehr häufig auch Frauen eingebunden, wie der deutsch-britische Mediziner Edzard Ernst in einem kürzlich erschienenen Buch darlegt.  

Buchhinweis

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Buchcover von 'Hitler's Female Physicians' mit Bild einer uniformierten Frau.
Legende: ZVG

Edzard Ernst: Hitler’s FemalePhysicians. Women Doctors During the Third Reich and Their Crimes Against Humanity. Springer 2025. Auf Englisch erschienen. 

Über den Autor:
Edzard Ernst, geboren 1948 in Wiesbaden, ist ein deutsch-britischer Mediziner. Er lebt in Cambridge (UK) und der Bretagne (F). 

Ärztinnen waren damals anteilmässig in der Medizin zwar krass untervertreten, aber punkto Barbarei und dem Ausmass der Taten standen sie ihren männlichen Kollegen in nichts nach: «Beide Geschlechter agierten mit einer enormen, widerlichen Brutalität», sagt Edzard Ernst. 

Viele waren enthusiastische Anhängerinnen der Naziideologie: Sie glaubten tatsächlich, dass man mit diesem Vorgehen den Genpool des deutschen Volkes reinigen sollte.
Autor: Edzard Ernst Autor

Die Frauen wurden gemäss Ernst von unterschiedlichen Motiven zu ihren Taten angetrieben. Die einen waren blosse Befehlsempfängerinnen, andere hätten sich aus finanziellen Gründen einbinden lassen. «Viele waren jedoch enthusiastische Anhängerinnen der Naziideologie: Sie glaubten tatsächlich, dass man mit diesem Vorgehen den Genpool des deutschen Volkes reinigen sollte.» 

Das Monster Herta Oberheuser 

Und dann gab es unter diesen Ärztinnen auch Monster. Ein solches war Herta Oberheuser: Obwohl Frauen der Zutritt zur SS verwehrt war und sie somit keine leitenden Positionen in einem KZ einnehmen konnten, schaffte es Herta Oberheuser zur Lagerärztin im Konzentrationslager Ravensbrück. Dort führte sie grausamste Menschenversuche durch. 

Herta Oberheuser

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Schwarz-weiss Porträt einer Frau in Mantel.
Legende: Wikimedia

Herta Oberheuser forschte im KZ Ravensbrück an einer Gruppe von Antibiotika, den Sulfonamiden. In ihren Experimenten fügte sie den Opfern Wunden zu, wie sie z.B. durch Bombensplitter entstehen. In diese Wunden fügte die Lagerärztin Holzsplitter oder Glas, aber auch Bakterien und andere Erreger ein, danach wurden Wundverlauf und die Wirkung der Sulfonamide beobachtet. Viele Opfer starben noch während der Experimente. Andere trugen schreckliche Schäden davon, an denen sie Jahre später starben. 

Für ihre Taten wurde Herta Oberheuser nach dem Krieg vor Gericht gebracht, im Nürnberger Ärzteprozess. Dieser war der erste der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse gegen Verantwortliche des Deutschen Reichs, anderthalb Jahre nach Kriegsende. Er fand vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 im Nürnberger Justizpalast vor einem amerikanischen Militärgericht statt. 

Angeklagt waren 23 Personen, davon 20 KZ-Ärzte bzw. eine Ärztin, Herta Oberheuser. Von diesen wurden sieben zum Tode verurteilt, fünf zu lebenslangen Haftstrafen und vier zu Haftstrafen zwischen 10 und 20 Jahren. Sieben Angeklagte wurden freigesprochen. Herta Oberheuser, die einzige Frau unter den Angeklagten, wurde zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Schon nach fünf Jahren wurde sie vorzeitig aus der Haft entlassen, wegen guter Führung.

Herta Oberheuser war die einzige Medizinerin, die nach dem Krieg im Nürnberger Ärzteprozess auf der Anklagebank stand und verurteilt wurde. Trotzdem durfte sie in den 1950er-Jahren wieder als Ärztin praktizieren. 

Nur milde Strafen 

Auch die meisten anderen Nazi-Ärztinnen wurden nur milde oder gar nicht bestraft, viele führten ein normales, bürgerliches Leben mit Ehe, Kindern und Arbeit in der eigenen Privatpraxis. «Es gab nach dem Krieg zwar Anstrengungen, die Krankenmorde juristisch aufzuarbeiten», sagt Edzard Ernst. «Doch dieses Interesse erlahmte bald, Deutschland hat sich für diese Verbrechen geschämt und das Ganze versanden lassen.» 

Einige Medizinerinnen und vor allem Mediziner machten später sogar Karriere an den Universitäten, erhielten trotz Nazivergangenheit Auszeichnungen und Ehrentitel. Auf einige von ihnen stiess Edzard Ernst während seines Medizinstudiums in München. Für ihn der Anstoss, sich als Nicht-Historiker zeitlebens mit der Rolle der Medizin in der Nazizeit zu befassen. 

SRF Wissen, 08.05.2025, 14:00 Uhr

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