Nylon ist überall – am Damenbein, am Berg, am Meeresboden. Als Strumpf, als Kletterseil, als Geisternetz. Entwickelt wurde die erste vollsynthetische Faser vor 90 Jahren.
Sie ist von Beginn weg ein Erfolg. Denn die Chemie stimmt – wissenschaftlich und zwischenmenschlich. Die Karriere des dehnbaren, strapazierfähigen und anschmiegsamen Gewebes beginnt an der langen Leine.
Der US-amerikanische Chemie-Gigant DuPont stellt in den 1920er- und 1930er-Jahren die besten Leute ein und lässt ihnen freie Hand beim Experimentieren. Ihre Aufgabe ist es, «pure science» – Grundlagenforschung – zu betreiben. Sie sollen neue wissenschaftliche Fakten entdecken ohne Fokus auf einen praktischen Nutzen.
An der langen Leine zur elastischen Faser
Man buhlt um die besten Köpfe und angelt sich unter anderem den brillanten Chemiker Wallace H. Carothers von der Harvard Universität. Der äusserst elastische Führungsstil zahlt sich aus.
Eine zähe, zu dünnen Fäden gezogene Paste schafft den genialen Spagat der Widersprüche. Nylon ist Ausdruck stoffgewordener Forschungsfreiheit.
Der Run auf die Nylons
Zuerst kommt Nylon auf die Zahnbürste – als Borste – und dann am 15. Mai 1940 in ganz grossem Stil ans Damenbein – als Strumpf. DuPont setzt früh auf Strumpfwaren und weckt mit geschicktem Marketing die Begierde der potenziellen Käuferinnen.
Nylon wird gepriesen, lange bevor es auf den Markt kommt. Das knitterfreie Material sei so stark wie Stahl und fein wie Spinnenseide.
Der erste Verkaufstag wird analog zum D-Day als N-Day – Nylon-Tag – inszeniert und ist so etwas wie das Apple-iPhone-Event der 1940er-Jahre. Tausende amerikanischer Frauen stürmen die Kaufhäuser und reissen sich die Strümpfe aus den Händen.
Die Sexualisierung des Frauenbeins
64 Millionen Strümpfe gehen im ersten Jahr über den Ladentisch. Selbst die wenigen, die sich die teureren Seidenstrümpfe leisten können, steigen um aufs Erdölprodukt.
Bald sind die kunstseidenen Strümpfe teurer als die echten Seidenstrümpfe. So begehrt ist die Faser, die Nacktheit vortäuscht, als diese noch tabu ist. Der Strumpf führt zur Sexualisierung des Beins. Die Rocksäume werden kürzer, die Beine optisch länger und bestrumpft augenscheinlich sinnlicher.
Der Strumpf zieht in den Krieg
Schon kurz darauf wird die Faser eingezogen: in den 2. Weltkrieg, wo sie als leichtgewichtiger, reissfester und wasserdichter Fallschirm- und Zeltstoff zum Einsatz kommt. Die Strumpfproduktion wird eingestellt.
Frauen geben ihre gebrauchten Strümpfe ab, damit diese zu neuen Stoffen gewoben und robusten Seilen gedreht werden können. Nylon tut seinen Dienst im Feld und fehlt den Frauen zu Hause. Was an Strümpfen übrig bleibt, wird auf dem Schwarzmarkt zu hohen Preisen gehandelt.
Nylon als Schwarzmarktwährung
Während des Kriegs werden die begehrten und seltenen Nylonstrümpfe aus Lagerbeständen auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Der Preis ist hoch. Ein Paar Strümpfe wechselt zum halben Preis einer elektrischen Waschmaschine die Hand. Auch Seidenstrümpfe sind kaum noch zu haben. Denn Japan – nun im Krieg gegen die USA – stoppt den Export von Seide in die USA.
Die Nylonstrümpfe werden so kostbar, dass sie in den Fokus Krimineller rücken. In Louisiana sollen 18 Paar Strümpfe aus einem Haushalt gestohlen worden sein. Bei einem Mord in Chicago wird Raub als Motiv ausgeschlossen. Begründung: Die Nylons seien nicht gestohlen worden.
Nylon-Riots - Der Geduldsfaden der Frauen reisst
Nach Kriegsende holen sich die Frauen ihr Nylon zurück und nähen aus Fallschirmen und Militärzelten Kleider.
Auf die ersehnten Strümpfe müssen sie warten und werden ungeduldig. DuPonts Umstellungsphase von Krieg auf Mode ist länger als der Geduldsfaden der Konsumentinnen. Es kommt zu Krawallen – den Nylon-Riots – vor und in den Warenhäusern. In Pittsburgh stehen 40‘000 Menschen für 13‘000 Paar Strümpfe an.
In Unterwäsche zum Mond
Nach dem Krieg steigen auch die Haute-Couture-Häuser aufs Nylon ein. In den 1960er-Jahren erlebt das Material noch einmal einen Boom.
Nylon macht sich aber auch an den Männerkörper. Als Socke und weit viriler noch: verarbeitet in den Druckanzügen der Astronauten. Dank Nylon sind die Anzüge jetzt viermal leichter. Verarbeitet werden diese Hightech-Kleider von Näherinnen, die auf Unterwäsche spezialisiert sind. BHs, Mieder, Raumanzug – das ist für sie kein grosser Unterschied.
Die Unterwäschenäherinnen der Firma Playtex sind die einzigen, die mit quecksilbrigen Stoffen wie Latex oder Nylon umgehen und den Astronauten die Anzüge passgenau auf den Leib schneidern können. An allen Stücken muss super exakt genäht werden. Nur die besten Näherinnen dürfen ran. Allein die äussere Hülle der Raumanzüge besteht aus 17 Schichten und Hunderten von Metern Saumlänge.
Die Sicherheit der Raumfahrer liegt in den Händen begnadeter Frauen wie Roberta Pilkenton, Hazel Fellows oder Henrietta Crawford. Sie arbeiten so unglaublich penibel, dass sie die maximal zulässige Abweichung von 0.38 Millimetern nie überschreiten und die Apollo-Astronauten in Hightech-Unterwäsche sicher zum Mond reisen.
Nylon überzieht die ganz Welt
Noch heute ist Nylon überall. Aber kaum in Reinform. Als Bestandteil von Mischgeweben durchdringt und überzieht Nylon unsere ganze Welt. Wo’s viel auszuhalten gilt, da ist Nylon drin. Es steckt in Outdoorkleidern, in Kletterseilen, in Pneus, in Teppichen, in medizinischen Implantaten, in Bürsten und als Flagge auf dem Mond.
Nylon ist ein synthetischer Evergreen und an vielen Orten im Einsatz. Da, wo’s einen Stoff braucht, der widersprüchliche Erwartungen erfüllen kann - damals wie heute. Nylon steht für strumpfgewordenen Erotik und ist auch nach 90 Jahren noch hart im Nehmen und genauso zäh zu Entsorgen.