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90 Jahre Nylon Der Stoff, der Frauenbeine zum Blickfang machte

Nylon revolutionierte die Mode. Über die Erfolgsgeschichte der Elastik-Faser, die auch im Krieg Karriere machte – und auf dem Mond landete.

Nylon ist überall – am Damenbein, am Berg, am Meeresboden. Als Strumpf, als Kletterseil, als Geisternetz. Entwickelt wurde die erste vollsynthetische Faser vor 90 Jahren.  

Person in Strümpfen und Shorts, von hinten gesehen.
Legende: Besonders am Damenbein hat Nylon für Aufsehen gesorgt. IMAGO / imagebroker

Sie ist von Beginn weg ein Erfolg. Denn die Chemie stimmt – wissenschaftlich und zwischenmenschlich. Die Karriere des dehnbaren, strapazierfähigen und anschmiegsamen Gewebes beginnt an der langen Leine.  

Der US-amerikanische Chemie-Gigant DuPont stellt in den 1920er- und 1930er-Jahren die besten Leute ein und lässt ihnen freie Hand beim Experimentieren. Ihre Aufgabe ist es, «pure science» – Grundlagenforschung – zu betreiben. Sie sollen neue wissenschaftliche Fakten entdecken ohne Fokus auf einen praktischen Nutzen.

An der langen Leine zur elastischen Faser

Man buhlt um die besten Köpfe und angelt sich unter anderem den brillanten Chemiker Wallace H. Carothers von der Harvard Universität. Der äusserst elastische Führungsstil zahlt sich aus.

Mann im Anzug mit Papierstreifen im Labor.
Legende: Der US-amerikanische Nylon-Erfinder Wallace Hume Carothers war ein Experte der Elastik. IMAGO / United Archives Internationa

Eine zähe, zu dünnen Fäden gezogene Paste schafft den genialen Spagat der Widersprüche. Nylon ist Ausdruck stoffgewordener Forschungsfreiheit.

Polymerforschung oder die Vermarktung der Kreativität

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Das Team von Wallace H. Carothers experimentiert mit Polymeren, mit langen kettenartigen Molekülen. Die Polymerforschung steckt damals noch in ihren Anfängen. Man versteht diese riesigen Moleküle schlecht, weiss aber, dass in der Natur viele Materialien polymer sind – zum Beispiel Proteine, Zellulose oder Gummi.

In Wallaces Labor wird zum ersten Mal Neopren entwickelt. Später entsteht beim Tüfteln mit verschiedenen Zutaten auf der Basis von Erdöl eine extrem zähe und trotzdem dehnbare Paste, die sich zu langen, starken und elastischen Fäden ziehen lässt. Nylon eben. Damals im Frühjahr 1935 «Fiber 66» genannt.

Da sind die Zeiten zwangloser, von Neugier getriebener Grundlagenforschung bei DuPont bereits am Ausfaden. DuPont hatte Grosses im Sinn mit dem neuen formbaren Faden: die Vermarktung der Kreativität.

Der Run auf die Nylons 

Zuerst kommt Nylon auf die Zahnbürste – als Borste – und dann am 15. Mai 1940 in ganz grossem Stil ans Damenbein – als Strumpf. DuPont setzt früh auf Strumpfwaren und weckt mit geschicktem Marketing die Begierde der potenziellen Käuferinnen.  

Vintage-Werbung für Dr. West's Miracle-Tuft Zahnbürste ohne Borsten.
Legende: Das erste Produkt aus Nylon war die Zahnbürste. Alamy Stock Foto, adsR

Nylon wird gepriesen, lange bevor es auf den Markt kommt. Das knitterfreie Material sei so stark wie Stahl und fein wie Spinnenseide. 

Heisse Faser, Kalter Krieg – oder jedem sein eigenes Nylon

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Die US-Amerikanerinnen kamen als erste an die «Nylons». Doch sie sind nicht die einzigen, die an den patentierten Stoff wollen. In anderen Ländern versucht man sich deshalb an sehnsüchtig erwarteten Nachahmerprodukten.

Die Nationalsozialisten entwickeln das «Perlon» – das Nazi-Nylon. Die DDR spinnt später ihr «Dederon» und in der Schweiz zieht die Bündner HOVAG AG, die Vorgängerin der Ems-Chemie, mit dem «Grilon» – dem Grischa Nylon – nach.

«Nylsuisse» so heisst die Kunstfaser, die im Textilunternehmen Viscosuisse in Emmenbrücke ab 1950 in rauen Mengen hergestellt und verarbeitet wird.

Der erste Verkaufstag wird analog zum D-Day als N-Day – Nylon-Tag – inszeniert und ist so etwas wie das Apple-iPhone-Event der 1940er-Jahre. Tausende amerikanischer Frauen stürmen die Kaufhäuser und reissen sich die Strümpfe aus den Händen. 

Die Sexualisierung des Frauenbeins 

64 Millionen Strümpfe gehen im ersten Jahr über den Ladentisch. Selbst die wenigen, die sich die teureren Seidenstrümpfe leisten können, steigen um aufs Erdölprodukt. 

Unerwünschte Nebenwirkungen und die Entwicklung des Deodorants

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Illustration einer Frau mit Händen im Gesicht, Mann im Hintergrund, Text über Körpergeruch.
Legende: f8 archive / Alamy Stock

Der Aufstieg von Nylon ist steil und die Nebenwirkungen riechen zuweilen streng. Der Stoff liegt schön am Körper. Aber manchmal klebt er. Er ist zwar wasserabweisend, aber in beide Richtungen. Nylon ist nicht atmungsaktiv. Die Feuchtigkeit bleibt zwischen Haut und Stoff stecken und es fängt an zu müffeln. In den USA wird Nylon zum Booster der Deo-Entwicklung.

In der Werbung wird die Hausfrau ermuntert, aktiv zu werden gegen Körpergerüche: «Schweissgeruch ruiniert die Romantik» mahnt zum Beispiel die Firma Bristol-Myers Co. 1958 und preist ihre «Effective MUM Cream» – zwei Dollar die Dose.

Bald sind die kunstseidenen Strümpfe teurer als die echten Seidenstrümpfe. So begehrt ist die Faser, die Nacktheit vortäuscht, als diese noch tabu ist. Der Strumpf führt zur Sexualisierung des Beins. Die Rocksäume werden kürzer, die Beine optisch länger und bestrumpft augenscheinlich sinnlicher.

Frau malt Strümpfe auf Beine einer anderen Frau.
Legende: Wer sich Nylonstrümpfe leisten kann, zeigt es. Wer nicht, färbt sich die Beine beige und lässt sich eine Naht aufs Bein zeichnen.   GettyImages, Hulton Deutsch

Der Strumpf zieht in den Krieg 

Schon kurz darauf wird die Faser eingezogen: in den 2. Weltkrieg, wo sie als leichtgewichtiger, reissfester und wasserdichter Fallschirm- und Zeltstoff zum Einsatz kommt. Die Strumpfproduktion wird eingestellt. 

Mann und Frau sammeln Seiden- und Nylonstrümpfe in einem Behälter.
Legende: Die Strümpfe kommen ins Körbchen für den Einsatz im Krieg. National Archives and Records Administration

Frauen geben ihre gebrauchten Strümpfe ab, damit diese zu neuen Stoffen gewoben und robusten Seilen gedreht werden können. Nylon tut seinen Dienst im Feld und fehlt den Frauen zu Hause. Was an Strümpfen übrig bleibt, wird auf dem Schwarzmarkt zu hohen Preisen gehandelt.

Nylon als Schwarzmarktwährung

Während des Kriegs werden die begehrten und seltenen Nylonstrümpfe aus Lagerbeständen auf dem Schwarzmarkt gehandelt. Der Preis ist hoch. Ein Paar Strümpfe wechselt zum halben Preis einer elektrischen Waschmaschine die Hand. Auch Seidenstrümpfe sind kaum noch zu haben. Denn Japan – nun im Krieg gegen die USA – stoppt den Export von Seide in die USA. 

Die Nylonstrümpfe werden so kostbar, dass sie in den Fokus Krimineller rücken. In Louisiana sollen 18 Paar Strümpfe aus einem Haushalt gestohlen worden sein. Bei einem Mord in Chicago wird Raub als Motiv ausgeschlossen. Begründung: Die Nylons seien nicht gestohlen worden.

Nylon-Riots - Der Geduldsfaden der Frauen reisst 

Nach Kriegsende holen sich die Frauen ihr Nylon zurück und nähen aus Fallschirmen und Militärzelten Kleider. 

Menschenschlange vor einem Lastwagen mit 'Free Nylons' Schild in einer Stadtstrasse.
Legende: Die Nylon-Riots: Nach dem Krieg gab es einen Run auf die Nylonstrümpfe. GettyImages, American Stock Archive

Auf die ersehnten Strümpfe müssen sie warten und werden ungeduldig. DuPonts Umstellungsphase von Krieg auf Mode ist länger als der Geduldsfaden der Konsumentinnen. Es kommt zu Krawallen – den Nylon-Riots – vor und in den Warenhäusern. In Pittsburgh stehen 40‘000 Menschen für 13‘000 Paar Strümpfe an.

In Unterwäsche zum Mond

Nach dem Krieg steigen auch die Haute-Couture-Häuser aufs Nylon ein. In den 1960er-Jahren erlebt das Material noch einmal einen Boom.

Zwei Frauen in Retro-Kleidung mit Mustern vor Holzwand.
Legende: Psychedelisch bunt gehaltene Strumpfhosen passen zu Minijupes und Hotpants.  Alamy/Interfoto

Nylon macht sich aber auch an den Männerkörper. Als Socke und weit viriler noch: verarbeitet in den Druckanzügen der Astronauten. Dank Nylon sind die Anzüge jetzt viermal leichter. Verarbeitet werden diese Hightech-Kleider von Näherinnen, die auf Unterwäsche spezialisiert sind. BHs, Mieder, Raumanzug – das ist für sie kein grosser Unterschied.

Die Unterwäschenäherinnen der Firma Playtex sind die einzigen, die mit quecksilbrigen Stoffen wie Latex oder Nylon umgehen und den Astronauten die Anzüge passgenau auf den Leib schneidern können. An allen Stücken muss super exakt genäht werden. Nur die besten Näherinnen dürfen ran. Allein die äussere Hülle der Raumanzüge besteht aus 17 Schichten und Hunderten von Metern Saumlänge.

Die Sicherheit der Raumfahrer liegt in den Händen begnadeter Frauen wie Roberta Pilkenton, Hazel Fellows oder Henrietta Crawford. Sie arbeiten so unglaublich penibel, dass sie die maximal zulässige Abweichung von 0.38 Millimetern nie überschreiten und die Apollo-Astronauten in Hightech-Unterwäsche sicher zum Mond reisen.

Frau näht Astronautenanzug an Nähmaschine.
Legende: Hazel Fellows, näht Teile eines Apollo-A7L-Raumanzugs. (1968) Smithsonian’s National Air and Space Museum

Nylon überzieht die ganz Welt 

Noch heute ist Nylon überall. Aber kaum in Reinform. Als Bestandteil von Mischgeweben durchdringt und überzieht Nylon unsere ganze Welt. Wo’s viel auszuhalten gilt, da ist Nylon drin. Es steckt in Outdoorkleidern, in Kletterseilen, in Pneus, in Teppichen, in medizinischen Implantaten, in Bürsten und als Flagge auf dem Mond.

Wohin damit – Recycling zäh, aber im Kommen

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Nylon braucht 30 bis 40 Jahre, bis es sich zersetzt hat. Auch in den Meeren: Dort werden verlorene Fischernetze, sogenannte Geisternetze, zur langlebigen Todesfalle für Schildkröten, Delfine, Haie und andere Meerestiere. 

Nylon lässt sich aber auch recyclen. Da es heute praktisch ausschliesslich in Mischgeweben verwendet wird, ist die Rückgewinnung aufwändig und teuer. Die Schweiz und die EU erwägen daher eine vorgezogene Nylon-Recyclinggebühr.  

Forschende tüfteln an anderen Methoden, um die synthetische Faser aus der Welt zu schaffen: Das Deutsche Forschungszentrum Jülich beispielsweise hat Bodenbakterien genetisch verändert und auf den Geschmack von Nylon gebracht. Die Bakterien ernähren sich von Nylon, verdauen das Material und verwandeln es in verwertbare Stoffe.

Nylon ist ein synthetischer Evergreen und an vielen Orten im Einsatz. Da, wo’s einen Stoff braucht, der widersprüchliche Erwartungen erfüllen kann - damals wie heute. Nylon steht für strumpfgewordenen Erotik und ist auch nach 90 Jahren noch hart im Nehmen und genauso zäh zu Entsorgen.

Buchtipps zur Geschichte des Nylons

Radio SRF 2 Kultur, Wissenschaftsmagazin, 10.5.2025, 12:40 Uhr

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