80 Millionen Arbeitsstunden – so viel leisten Menschen in der Schweiz, die ihre Angehörigen pflegen, jedes Jahr. Und zwar gratis. Würden sie bezahlt, läge der Wert bei rund 3.7 Milliarden Franken.
In den meisten Fällen wird diese Arbeit von Frauen gestemmt. Mit allen Nebenwirkungen: Sie können nicht oder nur reduziert arbeiten, geraten dadurch vielleicht selbst in Not und erhalten später nur eine minimale Rente.
Anouk Brunschwiler, 44, gehört zu den Personen, die Alltag, Beruf und die Pflege von einem oder sogar mehreren Familienmitgliedern unter einen Hut bringen müssen. Mit ihrem Mann Philipp, 49, hat sie drei Kinder. Die Geburt des Jüngsten vor sechs Jahren, stellte das Familienleben völlig auf dem Kopf: Andrin hat das Fox-G1-Syndrom, einen seltenen Gendefekt, der die Entwicklung und Funktion des Gehirns stört.
Andrin muss rund um die Uhr betreut werden. Er könne ein Brötli essen, aber ansonsten müsse er gefüttert werden. Auch selbständig laufen sei nicht möglich, so Anouk Brunschwiler. Sollte Andrin jemals den kognitiven Stand eines zweijährigen Kindes erreichen, dann wäre das ein Riesenerfolg.
Um ihren Sohn pflegen zu können, reduzierte Anouk Brunschwiler ihren Job als HR-Managerin auf 40 Prozent und hängte ihre Karriere an den Nagel. Weil ihr Mann Philipp als Wirtschaftsinformatiker mehr verdiente, blieben Pflege und Haushalt zum überwiegenden Teil bei ihr hängen.
Diesen Rückfall in veraltete Rollenmuster haben die Brunschwilers nie gewollt, gleichzeitig teilen sie ihn mit den meisten Eltern, die sich um ihre eingeschränkten Kinder kümmern.
Fünf Jahre lang pflegte Anouk ihren Sohn Andrin kostenlos. Während dieser Jahre war die Entschädigung durch die Invalidenversicherung zwar hilfreich, jedoch nicht mehr als ein Tropfen auf dem heissen Stein. Vor allem die fehlenden Jahre bei der Einzahlung in die AHV und die Folgen für ihre Rente, machten ihr Sorgen. Dann erzählte ihr eine Freundin von der Möglichkeit, sich bei einem Spitexbetrieb für die Pflege Andrins anstellen zu lassen – für Anouk ein Lichtblick.
Wenn Angehörigenpflege zum Job wird
Seit einem Jahr ist Anouk Brunschwiler jetzt für die Pflege ihres Kindes bei der privaten Spitexorganisation ASFAM in Zürich angestellt. Sie hat einen Arbeitsvertrag mit allen Rechten und Pflichten einer Arbeitnehmenden, einen Lohn und zahlt in die AHV ein.
Beim sogenannten «Erwerbsmodell der Angehörigenpflege» dürfen private wie auch öffentliche Spitexbetriebe pflegende Angehörige anstellen. Pensum und Lohnhöhe bestimmt der Pflegebetrieb und rechnet die Leistungen über die Krankenversicherung der gepflegten Person ab.
«Das Erwerbsmodell ist die einzige Möglichkeit für pflegende Angehörige, um von der unbezahlten Arbeit erstmalig oder wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu gelangen», sagt die Pflegewissenschaftlerin und Privatdozentin Iren Bischofberger.
Anouk verdient jetzt 33.50 Franken brutto die Stunde. Bezahlt wird sie allerdings nur für Grundpflegeleistungen wie zum Beispiel Haare waschen, eincremen oder Orthesen anlegen. Nicht für die Zeit, die sie mit ihrem Kind verbringt. Die Spitex verdient mit, denn sie verrechnet den Krankenversicherern weitaus höhere Stundensätze.
Anouk ist damit einverstanden. Schliesslich profitiert sie ja durch die Unterstützung einer ihr durch die Spitex zugewiesenen Pflegefachfrau. Die hilft ihr auch dort, wo es nicht nur um Pflege geht.
Mit der bezahlten Angehörigenpflege und ihrem Job als HR-Managerin erreicht sie nun fast ein Pensum von 80 Prozent. Dennoch plagte Anouk zunächst ein schlechtes Gewissen. «Ich dachte, die Gesellschaft erwartet doch von mir als Mutter, dass ich mich gratis um mein Kind zu kümmere. Erst recht, weil es behindert ist». So erzählte sie lange Zeit niemandem, dass sie für die Pflege von Andrin einen Lohn bekommt.
Und dafür kann man sich bezahlen lassen?
Spitexbetriebe, die das Erwerbsmodell der Angehörigenpflege anbieten, kennen diese Bedenken und beklagen, dass sich noch zu wenige Menschen anstellen lassen. Kenny Kunz, der Geschäftsführer von ASFAM, einem privaten ambulanten Pflegedienst mit Sitz in Zürich-Kloten erklärt, es herrsche noch immer der gesellschaftliche Druck, für die Pflege seiner Familienangehörigen kein Geld verlangen zu dürfen.
In der Tat schlägt dem Erwerbsmodell der Angehörigenpflege auch Skepsis entgegen. Zurzeit muss sich der Schweizer Bundesrat mit drei Interpellationen befassen, die die Bezahlung von Personen, die Angehörige pflegen, bemängeln.
So schreibt Thomas Burgherr von der Schweizerischen Volkspartei: «Fatal wäre es, für unsere Gesellschaft, wenn immer mehr Personen ihre Angehörigen zulasten des KVG betreuen oder medizinisch behandeln würden, während Abertausende von Müttern, Töchtern, Vätern und Brüdern diesen Beistand wie selbstverständlich und zu Gottes Lohn verrichten.»
Es gibt leider immer noch den gesellschaftlichen Druck, für die Pflege der Familienangehörigen kein Geld verlangen zu dürfen.
Anouk Brunschwiler hat ihr schlechtes Gewissen längst abgelegt. Schliesslich sei sie 24 Stunden pro Tag für Andrin da. Und manche Eltern würden ihre behinderten Kinder selbst in jungen Jahren schon in ein Heim geben. Ihr Ziel sei es jedoch, ihren Sohn so lange wie möglich bei sich Zuhause zu haben und zu pflegen. Bis dahin werde ihr und der Familie der Lohn für die Pflege helfen.
Aber noch wichtiger sei ihr die gesellschaftliche Anerkennung für die Arbeit, die sie leiste. Und diese Wertschätzung drücke sich auch durch eine faire Bezahlung aus.