Schon bei der Geburt ihrer Tochter liess Kathleen Wermke Tonaufnahmen machen. Ihr Mann machte diese im Kreissaal, zu Forschungszwecken.
In ihrem neuen Buch beschreibt sie die Erkenntnisse, die sie seither in über 40 Jahren Forschung gesammelt hat. Auffällig: Neugeborene weinen je nach Muttersprache anders. Laut Wermke hören Babys schon monatelang im Mutterleib auf die Melodie der Muttersprache und versuchen bereits vom ersten Tag an, diese nachzuahmen.
Unterschiede schon am ersten Tag
Babys, deren Mütter Deutsch sprechen, weinen in ihren ersten Lebenstagen vergleichsweise simpel. Oft weinen sie mit einem einfachen Melodiebogen: ein langer Ton, der absinkt. Hingegen bevorzugen französische Babys tendenziell eine steigende Tonhöhe.
Hier zeigt sich laut Kathleen Wermke der Unterschied der Muttersprachen. Im Französischen steigt die Tonhöhe gegen das Satzende oft an, im Deutschen fällt die Tonhöhe eher. Diese unterschiedlichen Sprachmelodien scheinen schon im Mutterleib das spätere Weinen der Neugeborenen zu prägen.
Auch Muttersprachen mit komplexeren Melodien prägen die Babys. Deutsch, Französisch und Englisch sind vergleichsweise wenig melodiös. Entsprechend weinen die Babys am Anfang mit sehr simplen Melodiebögen.
Anders ist das bei sogenannten Tonakzentsprachen, wie Japanisch oder Schwedisch. Diese Sprachen sind melodiöser. Gewisse Silben in einem Wort werden mit einer bestimmten Tonhöhenveränderung gesprochen.
Tatsächlich benutzen schwedische und japanische Neugeborene schon von Anfang an im Schnitt komplexere Melodiebögen, bei denen die Tonhöhe mehrmals auf und ab geht.
Von einfach zu komplex
Je nach Umgebungssprache starten Neugeborene also an unterschiedlichen Punkten. Und trotzdem gehe es dann in die gleiche Richtung, sagt Kathleen Wermke: «Die Entwicklung von einfachen zu immer komplexeren Melodien machen alle Babys der Welt durch.»
Je komplexer die Melodie, umso mehr könnten sich Eltern freuen, sagt Kathleen Wermke. Denn damit lasse sich die Entwicklung messen. Wenn ein Baby mit zweieinhalb Monaten schon zu 55 Prozent mit komplexen Melodiebögen weine, sei es auf sehr gutem Weg.
Freudiges Ausprobieren
Mit der Zeit beginnen Babys, ihr Weinen zu rhythmisieren – zum Beispiel durch Pausen. Später kommen erste Konsonanten dazu. Nach einigen Monaten kommen die ersten Silben.
Die Babys üben in dieser Zeit, ihr ganzes Stimmorgan zu benutzen – Zunge, Lippen, Kiefer, Kehlkopf. Alles probieren sie aus und freuen sich über sich selbst, so Wermke: «Zu begreifen, das bin ich, ich kann das machen, ist für die Babys eine unsagbare Freude.»
Bis zum ersten Wort
Der Schritt zum ersten Wort ist dann trotzdem noch gross. Babys lernen erst mit der Zeit, dass bestimmte Geräusche abstrakte Botschaften enthalten können, zum Beispiel, indem ihre Umgebung immer wieder gleich auf ein bestimmtes Geräusch reagiert.
Die vorsprachliche Entwicklung berührt Kathleen Wermke noch heute bei jedem Baby, das sie aufnehmen darf. In ihrem Büro hängen Bilder ihrer Studienobjekte. Einen Liebling habe sie nicht: «Jedes hat mich gelehrt, Demut zu zeigen und wahrzunehmen, was für eine Leistung sie erbringen.» Sie bedaure, nicht noch weitere 40 Jahre daran forschen zu können.