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Bericht einer Betroffenen «Kaufsucht ist keine Charakterschwäche, sondern eine Krankheit»

Rund fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung haben ein Shoppingproblem. Ab wann gilt man als kaufsüchtig? Und welche Folgen hat diese Sucht für die Betroffenen? Eine junge Frau gibt Einblicke in ihr Leben.

Bei Jessica Hofstetter zu Hause stapeln sich unzählige Bücher. Wie viele es sind, weiss sie nicht genau. Tausend sind es bestimmt. Darunter Krimis, Familiengeschichten und vor allem: viele Sachbücher. «Die Hälfte dieser Sachbücher habe ich nie gelesen», sagt die heute 33-Jährige.

Kaufen, um etwas in sich zu stillen

Warum diese Bücher besitzen, aber nicht lesen? Jessica Hofstetter ist kaufsüchtig. Sie kauft, um etwas in sich zu stillen. Und sie kauft vor allem Bücher.

Schon immer mochte sie Bücher. Zu einem Problem wird das in ihrer Lehre zur Buchhändlerin. Sie ist umgeben von Büchern und fängt an, unkontrolliert zu kaufen.

Tipps für Betroffene und Angehörige

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In den meisten Kantonen gibt es Suchtberatungsstellen. Dort können sich Betroffene sowie Angehörige Hilfe holen. Einen Überblick über die verschiedenen Anlaufstellen bietet die schweizerische Koordinations- und Fachstelle Sucht .

  • Zunächst ist wichtig, dass Betroffene sich überhaupt eingestehen, dass ein Problem besteht. Bei jeder Sucht wird eine Therapie mit spezialisierten Fachpersonen empfohlen.
  • Dann kann es hilfreich sein, auf bargeldloses Bezahlen zu verzichten. Das schafft einen besseren Bezug zu Geld.
  • Ausserdem kann es unterstützend sein, wenn eine Begleitperson zum Einkaufen mitgeht.
  • Auch das Führen eines Haushaltsbuches kann helfen, den Überblick über alle Ausgaben zu behalten.

Die Kaufsucht eines nahen Menschen kann auch für Angehörige herausfordernd und belastend sein. Hier kann es helfen, mit einer neutralen Person über die Sorgen zu sprechen.

Irgendwann ist das Sparkonto leergeräumt, tausende Franken sind weg, die Schulden in der Buchhandlung steigen. Denn Jessica Hofstetter kann Bücher mitnehmen, ohne sie gleich zu bezahlen. Sie lässt anschreiben, und die Bücherstapel wachsen.

Versteckt und verdrängt

Die Bücher verteilt sie in ihrer WG und in ihrem Zimmer im Elternhaus. So fällt lange niemandem auf, dass sie ein Problem hat. Auch ihr selbst nicht. «Ich habe immer nur gedacht: ‹Ich möchte das jetzt haben!›» Die Konsequenzen kümmern sie wenig.

Sie hat keinen Überblick mehr über ihre offenen Rechnungen. Dann kommt ihre Ausbildnerin auf sie zu und fordert das Geld ein, doch Jessica Hofstetter ist pleite.

Meine Süchte haben viel mit meinem Selbstwertgefühl zu tun.

Die Spirale dreht sich weiter. Die Buchhändlerin beginnt, sich Geld bei Verwandten zu leihen, um ihre Schulden zu begleichen. Sie kann dennoch nicht aufhören, neue Bücher zu kaufen – es ist wie ein Zwang. In der Zeit, in der die Sucht ihren Höhepunkt erreicht, nimmt sie zehn Bücher pro Woche mit.

Die Kaufsucht ist nicht das einzige Problem, sie hat auch mit einer Esssucht zu kämpfen: «Meine Süchte haben viel mit meinem Selbstwertgefühl zu tun», meint Jessica Hofstetter.

Oft fühle sie sich anderen Personen unterlegen. «Wenn ich in einer Diskussion wenig weiss, fühle ich mich dumm. Mit dem Kauf eines Sachbuchs habe ich mir dann immer eingeredet, dass ich damit mehr über ein gewisses Thema lernen kann.»

Wann wird Kauffreude zur Sucht?

Mit ihrer Sucht zum Shopping ist Jessica Hofstetter nicht alleine. Laut einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit BAG leiden fünf Prozent der Schweizerinnen und Schweizer an einer pathologischen Kaufsucht. Gar rund 20 Prozent der Bevölkerung wiesen 2019 ein risikoreiches Kaufverhalten auf – eine Vorstufe der pathologischen Kaufsucht.

Solch ein risikoreiches Kaufverhalten liegt laut BAG beispielsweise dann vor, wenn man Dinge kauft, um die eigene Stimmung zu ändern. Oder wenn immer mehr gekauft werden muss, um die gleiche Zufriedenheit wie früher zu erreichen.

Die Tricks der Händler

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Screenshot
Legende: srf

Um zum Kaufen zu animieren, setzen Händler nicht nur rund um den «Black Friday» ausgeklügelte Strategien ein. Um den dabei künstlich erzeugten Anreizen im Internet und in der realen Welt nicht zu verfallen, hilft es, die manipulativen Tricks zu kennen. Hier einige Beispiele:

Online

  • Künstlicher Zeitdruck: Angebote oder Rabatte werden als zeitlich limitiert gekennzeichnet, damit eine Kaufentscheidung schnell und impulsiv gefällt wird.
  • Künstliche Verknappung: Es wird suggeriert, dass nur noch wenige Stück eines Produkts verfügbar sind, um Druck auf Käuferinnen und Käufer auszuüben.
  • Die goldene Mitte: Es werden Produkte in verschiedenen Preissegmenten angepriesen. Konsumentinnen und Konsumenten entscheiden sich meist für das Produkt in der Mitte, das verkauft werden soll.
  • Ein-Klick-Effekt: Kaufvorgänge werden möglichst einfach gestaltet, sodass der Kauf durch möglichst wenige Klicks erfolgen kann. Zum Beispiel mit der Option «Jetzt kaufen, später bezahlen».

Offline

  • Verwirrung: Kundinnen und Kunden werden im Laden durch ein Labyrinth verschiedener Produkte geführt. So ist es schwieriger, sich auf das zu konzentrieren, was man ursprünglich kaufen wollte.
  • Anordnung: Produkte werden oft so angeordnet, dass sich das teuerste Produkt auf Augenhöhe der jeweiligen Zielgruppe befindet.
  • Schnäppchen suggerieren: Mit Farben oder grosser Schrift werden Rabatte angepriesen, die eigentlich gar keine sind.
  • Belohnungssystem: Luxusprodukte, Süssigkeiten etc. werden oft im Bereich vor den Kassen angeboten. Nach einem anstrengenden Einkauf greifen Menschen eher dazu, weil sie sich belohnen möchten.

Wo die Grenze zwischen pathologischer Kaufsucht und risikoreichem Kaufverhalten verläuft, ist nicht immer einfach zu definieren. Aus therapeutischer Sicht gibt es aber klare Warnzeichen: «Um eine Sucht handelt es sich, wenn der ganze Fokus nur noch auf einer Sache liegt, also beispielsweise auf dem Shoppen», erklärt Therapeutin Christina Messerli, die Leiterin Beratung und Therapie der Beratungsstelle «Berner Gesundheit». Alles andere werde vernachlässigt.

Ein weiteres wichtiges Zeichen für pathologisches Kaufverhalten: Die betroffene Person merkt zwar, dass das eigene Verhalten problematisch ist und negative Konsequenzen hat – kann davon aber nicht abweichen.

So wie es auch bei Jessica Hofstetter der Fall war, die zwar sah, dass sie sich immer mehr in finanzielle Schwierigkeiten manövrierte, aber trotzdem nichts daran ändern konnte. Oft treten solche Süchte in schwierigen Lebenssituationen auf.

Sucht und Selbstwertgefühl

Therapeutin Christina Messerli weiss aus Praxiserfahrung, dass eine Sucht fast immer mit einem geringen Selbstwertgefühl zu tun hat. Dies zeigt auch der Fall von Jessica Hofstetter. Die 33-Jährige sagt heute: «Ich war sehr froh, als mir eine Kaufsucht diagnostiziert wurde. Es stellte für mich klar, dass ich nicht einfach dumm oder charakterschwach bin, sondern eine Krankheit habe.»

Die Diagnose wurde ihr Mitte 20 gestellt. Der erste Schritt dazu war der Besuch beim Hausarzt, als ihr langsam bewusst wurde, wie gross das Problem eigentlich ist. Er verschrieb erst eine allgemeine Therapie, die sie regelmässig besuchte. Darauf folgte eine Therapie explizit für Verhaltenssüchte, zu der auch der Besuch einer Schuldenberatung gehörte.

Ich möchte die Kontrolle über meine Finanzen selbst behalten und lernen, meine Sucht ganz in den Griff zu bekommen.

Einen Vormund in Bezug auf ihre Finanzen hat Jessica Hofstetter nicht. Sie möchte die Kontrolle über ihr Geld selbst behalten und lernen, ihre Sucht ganz in den Griff zu bekommen.

Im Moment geht es ihr besser. Gemeinsam mit ihren Therapeuten hat sie Regeln aufgestellt. Sie nimmt nur Bücher mit, die sie auch bezahlt hat. Und bevor sie ein Buch kauft, erstellt sie eine Literaturliste, in der sie ihre Wünsche sammelt – davon erfüllt sie sich nur wenige.

Kam sie früher auf bis zu zehn Bücher pro Woche, hat sie heute ihre Impulse so gut unter Kontrolle, dass sie meist gar keine mehr kauft. Dennoch bleibt die Sucht ein Teil von Jessica Hofstetters Leben. In schwierigen Zeiten kann es immer noch vorkommen, dass sie drei bis vier Schmöker die Woche kauft.  

Jessica Hofstetters Wohnung ist immer noch voller Bücher, obwohl sie schon einige aussortiert hat. Einen Schritt nach dem anderen. Der Weg ist noch lang.

Puls, 20.11.2023, 21.05 Uhr

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