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Entwicklungshilfe in Cash Wie ein Lottogewinn für das ganze Dorf

Keine Medikamente, kein Saatgut, keine Brunnen – dafür Bargeld auf die Hand. Funktioniert dieses Modell der Entwicklungshilfe? Ein Augenschein in einem Dorf in Kenia.

«Seit ich heute Morgen um halb fünf diese SMS erhalten habe, habe ich kein Auge mehr zugetan», sagt John Katana Samuel. Auch seine Frau Halako Ziro Dima und die acht Kinder sind aufgekratzt.

Die SMS hat bestätigt, dass das private Hilfswerk «GiveDirectly» der Familie umgerechnet 500 Franken überwiesen hat. Eine zweite Tranche von 500 Franken wird bald folgen.

Das ist viel Geld in einem Land, wo man in der Land- oder Forstwirtschaft durchschnittlich 3200 Franken pro Jahr verdient. Das Einkommen von John Katana Samuel dürfte deutlich darunter liegen.

Die Küche dient als Ziegenstall

Der schlaksige 53-Jährige steht vor dem Haus seiner Familie in Sosoni A, einem Dorf in der kenianischen Savanne. Der hintere Teil des Hauses gleicht mehr einem Verschlag als den sonst üblichen Lehmbauten. In das Wellblechdach hat der Regen grosse Rostlöcher gefressen, die Küche dient nachts als Ziegenstall.

Eine Familie vor einem einfachen Haus mit Wellblechwänden.
Legende: Mehr Geld für die Zukunft: Samuel, Dima und sechs ihrer Kinder vor dem Haus in Sosoni A. SRF / Videostill

Samuels Familie ist arm – wie die meisten Familien im Dorf. So arm, dass es viel zu oft nur für eine Mahlzeit pro Tag reicht. Auch heute gibt es zum Frühstück nur Schwarztee.

Kollektiver Lottogewinn

Das Geld von «GiveDirectly» ist wie ein Lottogewinn. Ein kollektiver Lottogewinn, denn auch alle anderen der 74 Haushalte im Dorf Sosoni A haben von der Organisation Geld bekommen.

Jeden Haushalt in einem Dorf zu unterstützen, ist eine relativ neue Strategie von «GiveDirectly». Bis 2017 wurden Spenden nur an die ärmsten Haushalte verteilt. Mit dem neuen Ansatz erspart sich die NGO die zeitintensiven Abklärungen über das Einkommen der einzelnen Haushalte.

Gegründet wurde «GiveDirectly» von Wissenschaftlern der US-amerikanischen Universitäten Harvard und MIT. Nebst Kenia ist das Hilfswerk in sechs weiteren afrikanischen Ländern tätig, darunter Ruanda und Marokko.

Cash ohne Bedingungen

«GiveDirectly» setzt auf bedingungslose Barzahlungsprogramme. Das Besondere an diesen Programmen ist, dass die Spenden von den Empfängern nach Belieben verwendet werden können.

Das Grundprinzip dahinter ist Selbstverantwortung: Die Hilfsbedürftigen wissen selbst, was sie brauchen und in was es sich zu investieren lohnt.

In der Nothilfe sind Barzahlungsprogramme ein erprobtes Mittel. Nicht nur private Hilfswerke wie «GiveDirectly», sondern auch grosse Organisationen wie die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, das Welternährungsprogramm oder das Internationale Rote Kreuz setzen solche Programme rund um die Welt ein.

Relativ neu ist nun, dass Organisationen wie «GiveDirectly» mit Barzahlungsprogrammen nicht die Folgen einer Katastrophe abfangen, sondern damit strukturelle Armut bekämpfen wollen.

Gleichzeitig wird anhand solcher Projekte untersucht, für was das Geld ausgegeben wird und ob die Bargeldspenden auch den Märkten, Bauern und Handwerkern in der Umgebung helfen.

Möglich dank Handys

Barzahlungsprogramme können besonders effizient durchgeführt werden, wenn Hilfswerke Spenden direkt auf Mobiltelefone überweisen können. Die Empfänger nutzen das Geld für elektronische Zahlungen oder heben an Tankstellen, Kiosken oder in Internetcafés Bargeld ab. Transaktionen werden per SMS bestätigt, ein Bankkonto braucht es nicht.

In Kenia funktioniert dieses mobile Zahlungssystem gut, dank eines Betreibers, der das ganze Land abdeckt. «You have received KSh 55,000.00 from Give Direct Inc.»: So wurde der Familie von John Katana Samuel der Erhalt der 500 Franken angekündigt.

Die Töchter sollen die Schule abschliessen

Samuels Frau Halako Ziro Dima will das Geld vor allem in Bildung investieren. Sie selbst kann nicht lesen, war nie auf einer Schule und wurde als 13-Jährige mit ihrem 17 Jahre älteren Mann verheiratet.

Ihrer ältesten Tochter soll dies nicht passieren, sie soll die Schule abschliessen können. Für dieses Ziel hatte Halako Ziro Dima nach und nach alle ihre Hühner verkauft. Denn obwohl der Unterricht gratis ist – die Schulbücher oder die Verpflegung in der Schule sind es nicht.

Dank des Barzahlungsprogrammes soll es nun aufwärts gehen: Es hilft, das Schulgeld zu bezahlen, aber auch Essen zu kaufen – und ein neues Haus zu bauen.

Zwei Frauen an einem Marktstand.
Legende: Essen gibt es auf dem Markt in Bamba: Halako Ziro Dima besucht ihn mit «Einstein»-Moderatorin Kathrin Hönegger. SRF / Videostill

Das Haus ist ein lang gehegter Traum. Schon vor acht Jahren hat die Familie Bäume gepflanzt und davon die langen Ruten abgeschnitten, die es für die Verstrebung der Lehmwände braucht. Jetzt sind endlich Mittel da, um das Projekt fortzusetzen.

Bargeld vom Kiosk

Um das Bargeld abzuheben, müssen John Katana Samuel und Halako Ziro Dima in die nächstgrössere Stadt. In ihren besten Kleidern brechen sie auf zum 30-minütigen Fussmarsch über die rot-staubige Pistenstrasse nach Bamba.

Es ist 10 Uhr morgens, sie sind spät dran. Die beiden gehen von Kiosk zu Kiosk, aber keiner hat mehr Bargeld. Das Geld, das auf dem Handy gespeichert ist, können sie sich an diesem Tag nicht auszahlen lassen. Denn die Bewohner des Dorfes haben alle am gleichen Tag eine Geldspende bekommen. Viele haben sie bereits am frühen Morgen abgeholt.

360°-Video: Auf dem Wochenmarkt in Bamba, Kenia

Geknickt geben sie auf. «Ein anderes Mal», sagt John Katana Samuel. «Wir dürfen jetzt nicht in Panik verfallen.» Seine Frau geht zur Kirche, um zu beten. Er geht nach Hause, um nach den Kindern zu schauen.

Fünf neue Ziegen und eine Matratze

Zwei Tage nach dem Empfang der SMS hat John Katana Samuel von der Bargeldspende indirekt profitiert: Ein Arbeitgeber hat die Maurerarbeit bezahlen können, die John Katana Samuel schon vor Monaten geleistet hat. Von ihrer eigenen Spende hat die Familie noch jeden Rappen auf dem Mobiltelefon.

Eine andere Familie, ganz am anderen Ende des Dorfes, hat das Geld von «GiveDirectly» schon fleissig genutzt. Zawadi Karisa Charo und ihr Mann haben acht Kinder. Er ist Strassenbauer, sie schaut zu Haus und Feld – und neuerdings auch zu fünf Ziegen.

Die 29-Jährige hat schon fast die ganze erste Tranche ausgegeben, für die Tiere, für Essen und Schulgeld, aber auch für eine Matratze, ein Bett, und Wellblech für ein neues Dach.

Eine Frau auf einem Markt
Legende: Das Bargeld verwaltet Zawadi Karisa Charo. Sie nutzt es für die Kinder und den Haushalt. SRF / Videostill

Dass schon viel Geld ausgegeben ist, hat vielleicht auch mit ihrem Mann zu tun. Er ist alkoholkrank, trinkt häufig und viel. Von seinen Einnahmen als Strassenbauer gibt er normalerweise zwei Drittel für die Ernährung seiner Familie ab. Das letzte Drittel ist für sein persönliches Vergnügen: Palmwein und Tabak. Das Hilfsgeld allerdings verwaltet seine Frau.

Für was wird das Geld ausgegeben?

Dass Bargeldspenden am Ende nur für Alkohol draufgingen, diesen Einwand hört Suleiman Asman oft. Er ist regionaler Direktor bei «Innovations for Poverty Action», Abteilung Ostafrika. Die gemeinnützige Organisation untersucht weltweit, was die effizientesten Lösungen sind, um Armut zu bekämpfen.

«Überraschenderweise sind die Empfänger von Bargeldspenden grundsätzlich vorsichtig und rational», sagt Suleiman Asman. Sie bauten Häuser, kauften Haushaltsgegenstände, Matratzen – Dinge, die ihr alltägliches Leben besser machten.

Ein dunkelhäutiger Mann in einem Büroraum.
Legende: Die Bargeldspenden hätten positive Nebeneffekte, sagt Entwicklungsexperte Suleiman Asman. SRF / Videostill

«Andere investieren in Ausbildung oder Medikamente. Die Leute essen besser und vor allem vielfältiger.» Und eine Geldgrundlage heisst auch: weniger Stress. Die Sorge, woher die nächste Mahlzeit kommen soll, ist weg.

Mit Geld steigen die Preise

Doch Bargeldspenden beeinflussen auch den lokalen Markt. Nachbarn, Handwerker und Bauern in der Nähe der Spendenempfänger profitieren davon, dass sie ihre Produkte verkaufen können. Die Kehrseite: Wenn ein Dorf Geld bekommt, steigen die Preise in der Umgebung kurzzeitig an. Die DEZA empfiehlt, darauf ein Auge zu haben.

«Barzahlungsprogramme sollen ein Modell sein, um Armut zu bekämpfen – aber nicht das einzige Modell», sagt Suleiman Asman. Man müsse sicherstellen, dass Leute auch an demokratischen Prozessen teilnehmen könnten. Dass man sich mit der Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern auseinandersetze. Dass Krankheiten eingedämmt würden.

Es brauche ausserdem sauberes Wasser, Zugang zu Medikamenten oder zu sanitären Anlagen. «All diese Dinge zählen als Entwicklung. Jeder, der das Ganze auf Einkommen beschränken will, der hat ein Problem mit seiner Definition von Entwicklung.»

Bargeld baut keine Brunnen

Barzahlungsprogramme sind keine Allzweckwaffe. Wo keine Nahrungsmittel vorhanden sind, da hilft alles Geld nicht. Bargeldspenden an die Ärmsten ändern wenig an korrupten Regierungen, bauen weder Brunnen noch Brücken. Und wie nachhaltig Bargeldspenden sind, was sie langfristig mit einer Gesellschaft machen, muss zuerst noch untersucht werden.

Im Hinblick auf Kenia ist Suleiman Asmans Fazit: «Die Regierung Kenias und die Bevölkerung müssen innovative Ansätze finden, um sich selbst aus der Armut zu helfen. Doch dazu brauchen sie Hilfe in verschiedenen Formen: Bargeld, Denkweisen, Technik.»

Zwei Monate später

Zwei Monate später, wieder im Dorf Sosoni A. Zawadi Karisa Charo und ihr Mann stehen sichtlich stolz vor ihrem Haus. Das neue Wellblechdach gleisst in der Sonne, eine stabile Tür ist in die soliden Lehmwände eingelassen, und nebenan liegt ein Stapel Wellblech für den Bau eines zusätzlichen Raumes.

Es gibt eine Ziege und eine Matratze mehr. Im Haus steht ein prall gefüllter Sack Mais und Maissaat wartet darauf, eingepflanzt zu werden.

Auch Halako Ziro Dima und John Katana Samuel haben Maissaatgut und Werkzeug gekauft. Die Anzahlung für den Hausbau ist geleistet, jetzt müssen die Handwerker nur noch Zeit haben, mit dem Bau zu beginnen. Denn viele Dorfbewohner wollen nun mit dem Geld von «GiveDirectly» ihr Haus erneuern oder ausbauen.

Für die nächsten fünf Jahre, sagt Halako Ziro Dima, müsse sich die Familie keine Sorgen machen. Vielleicht könnten sie sogar eines ihrer Kinder zur Uni schicken – damit es danach mit einem guten Lohn den Rest der Familie unterstützt.

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