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Erfolgschancen von Streiks «Schwächt sich die Wirkung des Frauenstreiks irgendwann ab?»

Wie viel bringt der Frauenstreik eigentlich? Ein Blick in die Geschichte zeigt: In der Schweiz sind Streiks erstaunlich oft erfolgreich. Allerdings könnte der Frauenstreik auch zum Opfer seines eigenen Erfolgs werden.

Christian Koller

Titularprofessor am Historischen Seminar der Universität Zürich

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Christian Koller ist Direktor des Schweizerischen Sozialarchivs und Titularprofessor am Historischen Seminar der Universität Zürich. Er hat sich im Rahmen seiner Forschungstätigkeit intensiv mit der Geschichte und Kultur des Streikens in der Schweiz auseinandergesetzt und dazu mehrere Bücher veröffentlicht.

SRF Wissen: Welche Bedingungen muss ein Streik erfüllen, damit er erfolgreich ist?

Christian Koller: Drei Bedingungen sollten erfüllt sein: Er muss breit abgestützt sein, also wenig Spaltung in Streikende und Nicht-Streikende. Dann braucht es eine professionelle Organisation, die die Streikenden unterstützt.

In der Schweiz haben Streiks gute Erfolgschancen.
Autor: Christian Koller Titularprofessor am Historischen Seminar der Universität Zürich

Und der Streik sollte medial so abgestützt sein, dass die öffentliche Meinung zumindest Teilsympathien für das Anliegen aufbringt.

Demnach hat der Frauenstreik 2023 gute Erfolgsaussichten?

Die drei Bedingungen sind sicher zu einem bedeutenden Teil erfüllt. Der Frauenstreik ist aber nicht nur ein Streik im engeren Sinn. Klassischerweise versteht man darunter, dass Lohnabhängige ihre Arbeitsleistung verweigern, meist mit klaren Forderungen an den Arbeitgeber. Beim Frauenstreik sind die Forderungen vielfältiger. Das macht es schwieriger, den Erfolg zu messen.

Den Erfolg von Streiks messen

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Wie gut Streikforderungen erfüllt werden, lässt sich durch einen Vergleich der Forderungen mit späteren Arbeitszeiten und Löhnen eruieren. Gemäss Christian Koller gibt es in der Schweiz statistische Auswertungen für die Epoche von 1880 bis zum Ersten Weltkrieg, für die Nachkriegszeit und für die jüngste Zeit seit der Jahrtausendwende.

«Diese Auswertungen zeigen: Die Erfolgszahlen sind interessanterweise ähnlich, obwohl die Epochen und auch die Streikhäufigkeit ganz unterschiedlich sind. Nur 10 bis 25 Prozent aller Streiks waren Misserfolge», sagt Christian Koller. Die überwiegende Mehrheit der Forderungen wurden also mindestens teilweise erfüllt.

In der Schweiz haben Streiks aber gute Erfolgschancen: Ein bedeutender Teil der Streiks war vollständig oder teilweise erfolgreich.

Zählen Sie da auch den ersten grossen Frauenstreik von 1991 dazu?

Die Forderungen des Frauenstreiks richteten sich an vielfältige Adressaten: Arbeitgeber, die Politik, die Männer, die Gesellschaft als Ganzes. Das macht es schwieriger, Kausalitäten festzustellen. Eine Wirkung ist aber klar: Die Mobilisierung und die Proteste nach der Nichtwahl von Christiane Brunner in den Bundesrat 1993 beruhten auf den Netzwerken des Frauenstreiks. Das führte schliesslich zur Wahl von Ruth Dreifuss. Zehn Jahre früher, bei der Nichtwahl von Lilian Uchtenhagen , gab es zwar auch Proteste, aber sie ebbten schnell wieder ab.

Gab es noch weitere Auswirkungen?

Streiks können noch lange nachwirken. Das zeigt das Beispiel des Landesstreiks 1918 , der unter anderem zur Einführung der AHV 1948 führte. Heute haben wir beispielsweise viel mehr Frauen in Parlamenten und Exekutiven als 1991. Es ist aber schwieriger, einen direkten Zusammenhang zum Streik wissenschaftlich nachzuweisen.

Aus Sicht des Streikforschers: Wie sehen Sie die Zukunft des Frauenstreiks?

Was ich mich frage, ohne es abschliessend beantworten zu können: Schwächt sich die Wirkung des Frauenstreiks irgendwann ab? Die ersten beiden hatten im Abstand von fast 30 Jahren ein gewaltiges Echo. Vier Jahre später ist nun der nächste nationale Streiktag.

Die Organisatorinnen des Frauenstreiks werden sich dazu bestimmt Gedanken machen: Wollen sie eine alljährliche Erinnerung an die unerfüllten Forderungen, mit dem Risiko, dass sich die Wirkung abnützt? Oder in grösseren Abständen eine richtig grosse Kiste?

Mir fällt dazu eine Parallele zum ersten Mai ein: Dieser wurde 1890 ins Leben gerufen , um den Achtstundentag durchzusetzen. Als der Realität war, wurde die Palette der politischen Botschaften vielfältiger, aber auch diffuser. Heute sind alle möglichen Forderungen und Bewegungen präsent. Es gibt nicht mehr eine zentrale Botschaft, die jährliche Durchführung hat etwas Rituelles.

Das Gespräch führte Thomas Kobel.

Tagesschau, 11.06.2023, 19:30 Uhr ; 

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