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Experimentelle Musikforschung «Telefonspiel» mit Melodien

Wie wird Musik von Mensch zu Mensch weitergegeben, wenn es keine Noten und keine Tonträger gibt? Forscher haben ein grosses Online-Experiment dazu gemacht.

Woher kommen die Melodien? In unserer Kultur lautet die Standardantwort: Ein Komponist oder eine Komponistin hat sie sich ausgedacht, vielleicht zu Papier gebracht, dann wird das Lied im Studio mit Profimusikern aufgenommen, und wir hören es im Radio oder über Streamingdienste.

Aber es gibt noch viele alte Volkslieder, die von keinem einzelnen Menschen erschaffen, sondern von Generation zu Generation mündlich weitergegeben wurden. In manchen Kulturkreisen ist das heute noch so. Gibt es dabei Gesetzmässigkeiten? Das wollte ein internationales Team von Musikforschern herausfinden.

Ihr Online-Experiment erinnert an das «Telefonspiel». Es beginnt mit willkürlich erzeugten, sehr maschinell klingenden Sequenzen von drei oder fünf Computertönen. Der erste Proband hört sich das an, versucht es nachzusingen, dann wird die Melodie wieder in Computerpiepser umgewandelt und der nächsten Teilnehmerin vorgespielt. Insgesamt 590-mal erzeugten die Forschenden eine solche Kette mit jeweils zehn menschlichen Stationen.

Eine typische Übertragungskette aus dem Experiment

Wie verändert sich eine Melodie in diesem Prozess? «Nicht rein zufällig», sagt Nori Jacoby vom Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main. Selbst wenn die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Kräften versuchten, die Töne nachzusingen, seien sie durch drei Faktoren beschränkt: ihre Merkfähigkeit, die Limitierung ihres Stimmapparats und ihre kulturelle Vorprägung, etwa durch die Tonleitern ihres Kulturkreises.

Die Endresultate des Übertragungsexperiments klingen dann auch nicht so zufällig wie die Ausgangsmelodien. Es bildeten sich mehrere prototypische Motive heraus – etwa eine Melodie, die auf - und wieder absteigt. Oder ein Dur-Akkord unserer westlichen Musik.

Die häufigsten 3-tönigen Endprodukte

Was am Ende herauskommt, ist auch kulturell geprägt: Teilnehmer in Indien produzierten finale Melodien mit kleineren Tonschritten als die Probandinnen in den USA.

Das Experiment untersuchte nur sehr rudimentäre «Melodien», und in der Wirklichkeit ist die Weitergabe von Musik auch keine lineare Kette, bei der es auf jedes einzelne Glied ankommt – kulturelle Tradition ist eher ein Netzwerk-Effekt mit vielen Beteiligten. Trotzdem entsprechen die Muster, welche die Forscher fanden, weitgehend denen, die Musikhistoriker auch in der realen Welt bei der Weitergabe traditioneller Lieder entdecken konnten (siehe Box).

«Oh Susanna!»: So hat sich das Lied verändert

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Der amerikanische Musikforscher John Spitzer untersuchte 1994 , wie sich das bekannte Lied «Oh Susanna!» seit der ersten Veröffentlichung im Jahr 1848 verändert hat. Man muss allerdings sehr genau hinhören, um den Unterschied im Refrain wahrzunehmen.

Der Refrain von «Oh Susanna!» in der ersten Notenfassung von 1848 und wie er heute gesungen wird

Die Differenz ist subtil – aber doch typisch: Durch die mündliche Weitergabe wurde die Melodie sozusagen abgeschliffen und vereinfacht. «Die Reduktion der Intervallvielfalt auf gängigere und prototypische Intervalle – genau das sehen wir auch in unseren Melodien im Experiment», sagt Nori Jacoby.

Die Gesetzmässigkeiten, welche die Musikforscher entdeckt haben, und in weiteren Experimenten verfeinern wollen, können Aufschluss darüber geben, was unsere Ohren als schöne oder gefällige Musik empfinden. Und Jacoby schliesst nicht aus, dass sie Komponistinnen und Komponisten beim Schreiben des nächsten Hits helfen könnten.

Wissenschaftsmagazin, 29.04.2023, 12:40 Uhr

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