Die Vermutung liegt nahe: In einer gleichberechtigteren Gesellschaft gibt es weniger Geschlechterklischees. Doch diese Annahme ist falsch. Untersucht hat das Christa Nater von der Universität Bern, zusammen mit einem internationalen Team, in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie.
SRF Wissen: Kann Gleichberechtigung Männer unter Druck setzen – und damit sich selbst im Weg stehen?
Christa Nater: Ja, in gewisser Weise schon. Unsere Studie mit über 4000 Befragten aus sieben Ländern zeigt: In gleichberechtigteren Ländern wie in Schweden oder in der Schweiz gibt es stärkere soziale Normen für Männer, den höheren sozialen Status ihrer Geschlechtergruppe aktiv zu verteidigen. Das heisst, Männer in diesen Ländern stehen unter besonders hohem Druck, tatkräftig, führungsstark und ehrgeizig zu sein – sie sollen den sozialen Wert und Status ihrer Gruppe sichern.
Es gibt viele Nachteile für Männer aufgrund der traditionellen Männerrolle.
Gerade dieser Druck kann Geschlechtergerechtigkeit untergraben – insbesondere, wenn es um gleiche Anerkennung, Prestige und Autorität von Frauen und Männern geht. Denn er stabilisiert traditionelle Hierarchien auf subtile Weise. In Ländern mit geringerer Gleichstellung wie den USA, Indien, Ghana oder Iran ist dieser männliche Statusdruck schwächer, weil der höhere gesellschaftliche Status von Männern weniger bedroht ist. Dafür besteht dort ein stärkerer Druck für Frauen, sich nicht dominant zu verhalten – was ebenfalls ein Hindernis für echte Gleichstellung ist.
Was ist eine mögliche Erklärung dieser verstärkten Rollenklischees für Männer in gleichberechtigteren Gesellschaften?
Ein psychologischer Grundmechanismus, wonach sich Gruppen voneinander abgrenzen und unterscheiden wollen. Das können verschiedene Abgrenzungsmerkmale sein: Ethnizität, Alter, oder eben Geschlecht.
Könnte der hohe Druck, der Männern auferlegt wird, Ihrer Meinung nach auch daher rühren, dass sie befürchten, ihre bisherigen Privilegien zu verlieren?
Tatsächlich führt mehr Geschlechtergerechtigkeit zu mehr Wettbewerb zwischen den Gruppen. Das kann zu Feindseligkeiten bei Männern führen, die sich durch die Emanzipation der Frauen abgehängt und ihre Privilegien bedroht fühlen. Doch ist das nur eine Minderheit, die sich durch mehr Gleichberechtigung bedroht fühlt und sich radikalisiert. Doch ist diese Minderheit sehr laut.
Diese Denkweise, die sogenannte Null-Summen-Perspektive, bezeichnet die Annahme, dass Gewinne für Frauen immer einen Nachteil für Männer bedeuten. Doch was häufig in diesen Diskursen in Vergessenheit gerät: Es gibt viele Nachteile für Männer aufgrund der traditionellen Männerrolle. Verschiedenste Studien zeigen: Diese Rolle kann dazu führen, dass Männer früher sterben, sich aggressiver verhalten und häufiger an Depressionen und Suchterkrankungen leiden.
Was erscheint Ihnen wichtig, anstelle der Null-Summen-Perspektive zu betonen?
Wenn unsere Möglichkeiten, Chancen, und Entscheidungen nicht von gesellschaftlichen Zwängen eingeschränkt sind, dann gewinnen wir alle an Freiheit. Und dadurch an Zufriedenheit und Lebensqualität.
Meinungsumfragen in verschiedenen europäischen Ländern zeigen immer wieder: Eine überwiegende Mehrheit ist für Fairness und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Doch Stereotype verschwinden nicht automatisch in einer gleichberechtigteren Gesellschaft. Einige Genderrollen erstarken sogar. Es braucht somit weitere Bemühungen, wenn wir uns allen mehr Freiheit ermöglichen wollen.
Das Gespräch führte Regula Ott.