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Der Kühlturm des KKW Gösgen inmitten von Häusern.
Legende: Das Kernkraftwerk Gösgen: Über 250'000 Menschen müssten evakuiert werden, wenn es zu einem GAU käme. Keystone

Mensch AKW-Störfall: «Die Menschen reagieren anders, als man es plant»

In der Schweiz hiess es bisher im AKW-Störfall: Schutz im Keller suchen. Doch Fukushima hat gezeigt, dass es Situationen gibt, in denen evakuieren sicherer ist. Aber reicht die Zeit für eine Evakuierung, bevor die radioaktive Wolke ausbricht? Verkehrssimulationen sollen helfen, das zu entscheiden.

Eine Minute Alarm, zwei Minuten Pause: Wenn die Sirenen rund ums AKW Gösgen so heulen, sollen die Bürger das Radio anschalten und den Behördenanweisungen folgen. Lautet die Anweisung: «Bitte verlassen Sie dieses Gebiet!», würde es drei Stunden dauern, bis die 250'000 Menschen in der 30-Kilometer-Schutzzone rund um das AKW evakuiert sind – im theoretischen Idealfall.

Ausgerechnet haben das Verkehrsforscher der ETH Zürich. Sie haben eine spezielle Computersimulation entwickelt. Mit ihr können sie ausrechnen, wie lange es dauert, bis die Bevölkerung die Zonen 1 und 2 rund um Gösgen verlassen hat – und zwar unter verschiedensten Bedingungen.

Evakuieren oder abtauchen?

212 Szenarien haben die Fachleute durchgerechnet. Im erwähnten Drei-Stunden-Idealfall beginnt die Evakuierung morgens um 8 Uhr, wenn möglichst viele Menschen den Alarm mitbekommen. Es gibt gutes Wetter, beste Strassenbedingungen, und eine gute Informationslage. Die Menschen fliehen sofort und der ÖV funktioniert. Aber selbst dann: Ist es realistisch, 250‘000 Menschen in so kurzer Zeit zu evakuieren?

«Das Ziel war zu schauen, wie lange eine Evakuierung überhaupt dauern würde», sagt Christoph Dobler, der die Studie im Auftrag des Bundesamtes für Bevölkerungssicherheit (BABS) durchgeführt hat. «Wenn es im günstigsten Fall schon 18 Stunden gedauert hätte, dann muss man die Evakuierungs-Planung sicher nicht in der Intensität führen.»

Wie fliehen wir?

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Die ETH-Forscher haben in Befragungen festgestellt:

  • Die meisten würden mit dem Auto fliehen.
  • Familien fliehen gemeinsam.
  • Familien mit Kindern gehen eher als älterer Menschen.
  • Bekannte werden mitgenommen, wenn Platz im Auto ist.
  • Ein Teil geht nur widerwillig, z.B. aus Angst vor Plünderungen.

Doch sein Modell hat gezeigt, dass Evakuierungen in relativ kurzen Zeitspannen möglich sind. Für das BABS kommen sie deshalb zukünftig als Massnahme bei AKW-Störfällen infrage. Auch wenn eingeschränkt wird, dass Einrichtungen wie Spitäler, Heime oder Gefängnisse im Modell nicht berücksichtig sind, weil sie nicht so schnell evakuiert werden können.

Die Forscher haben auch den Fall berechnet, in dem alles schief läuft und eine Evakuierung zwei Tage dauern würde. Auch darum ging es der Bundesbehörde: Wann schafft man die vorsorgliche Evakuierung? Und wann heisst es besser: im Haus bleiben und am besten in die Keller abtauchen? Die Gösgen-Simulation soll für diese Entscheidung Richtlinien schaffen, die auch für andere AKWs gelten könnten.

Zeit und Dosis sind entscheidend

Sobald ein Störfall in einem Schweizer AKW gemeldet wird, kommt ein Krisenstab zusammen. Er besteht aus Vertretern der Nationalen Alarmzentrale, des Kantons, des ENSI und des betroffenen Kernkraftwerks. Sie entscheiden anhand einer Checkliste über alle weiteren Massnahmen. Im Falle einer Evakuierung sind zwei Faktoren entscheidend: Wie hoch ist die zu erwartende Radioaktivität? Und wie viel Zeit bleibt uns?

Im sogenannten Dosis-Massnahmen-Konzept ist der genaue Wert angegeben, ab dem evakuiert wird: dann, wenn für die Bevölkerung eine radioaktive Belastung von 100 Millisievert innert zwei Tagen droht (siehe Box unten). Beurteilt wird der erwartete radioaktive Austritt aufgrund der Einschätzungen des ENSI.

Im absoluten Notfall bleiben vier Stunden

Der zweite Faktor ist die Zeit, denn «wenn es zu einem Austritt von radioaktiven Stoffen käme, dann dürfte es auf keinen Fall passieren, dass der Fallout in dem Moment passiert, in dem die Leute draussen sind und evakuiert werden», sagt René Müller, Leiter Sektion Katastrophenvorsorge und Stabschef Kantonaler Führungsstab im Aargau.

Angenommen, jede Schutzbarriere des AKW Gösgen hätte versagt, dann rechnet man mit etwa vier bis sechs Stunden, bis radioaktive Stoffe in die Umwelt gelangen. Das ist also das Minimum, das für eine Evakuierung zur Verfügung stünde. Es sind auch Szenarien mit weitaus mehr Spielraum denkbar. In Fukushima hatte man 13 bis 15 Stunden bis zur ersten Freisetzung von Radioaktivität. Bei der teilweisen Kernschmelze im AKW in Harrisburg 1979 wurde evakuiert und die erwartete Freisetzung blieb aus.

Dosis-Schwellen im Ernstfall

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  • Die Dosis von 100 Millisievert (mSv) in zwei Tagen ist ein Richtwert. Unter diesem Wert sind laut BAG keine akuten Strahlensymptome und keine Blutbildveränderung zu erwarten.
  • Ab 10 mSv wird der geschützte Aufenthalt im Haus empfohlen.
  • Ab 50 mSv die Einnahme von Jodtabletten.
  • Im Normalfall sind wir einer Strahlung von 3 bis 5 mSv pro Jahr ausgesetzt.

Allerdings lehrt die Erfahrung, dass Kernkraftwerk-Betreiber einen Zwischenfall lange geheim halten könnten, bevor sie ihn den zuständigen Behörden melden. Das war bei Tschernobyl nicht anders als in Harrisburg. Und auch in Japan bestritt das staatliche Energieunternehmen Tepco lange, dass die Freisetzung von radioaktiver Strahlung droht.

Wenn ungefähr klar ist, wie viel Zeit bleibt, können die 212 berechneten Evakuations-Szenarien wie eine Matrix funktionieren: Der Führungsstab weiss, was passiert ist, kennt die Wetterlage, Tageszeit und seine Informationsmöglichkeiten und kann so abschätzen, wie lange die Evakuierung etwa dauern würde. Und die Bevölkerung dann dementsprechend informieren, ob sie fliehen soll.

«Das Gehirn der Menschen ist ausser Kraft gesetzt»

Ob die dann im Notfall auch so handelt wie geplant, weiss niemand genau. «Die Menschen haben in solchen Situationen einen erhöhten Puls und Adrenalin-Ausstoss. Gewisse Teile des Gehirns sind ausser Kraft gesetzt – die Menschen reagieren nicht so, wie man sich das vorstellt», sagt der Physiker Michael Schreckenberg von der Universität Duisberg-Essen. Er hat selbst schon Verkehrssysteme simuliert und sich damit beschäftigt, wie sich Menschenmengen in Extremsituationen verhalten.

Die Autoren der ETH-Studie haben für ihr Modell Bevölkerungsbefragungen durchgeführt und zusammengetragen, welche internationalen Erfahrungen es mit Evakuierungen gibt. Sie kamen zum Schluss, dass Kurzschlussreaktionen nicht unbedingt so gravierend sind, wie das in der Regel erwartet wird. Kopfloses Verhalten trete eher auf, wenn die Bedrohung direkt auf die Menschen zukommt – eine Feuerwand zum Beispiel oder ein Tsunami. Eine radioaktive Wolke hingegen ist unsichtbar. Die Erfahrungen aus Fukushima sind jedoch nicht mehr mit in das Modell eingeflossen.

Keine Erfahrungen in der Schweiz

Erfahrungen, wie die Bevölkerung sich bei einer solchen Evakuierung verhalten würde, gibt es in der Schweiz nicht: «Ob sie panisch reagiert oder geordnet die Schutzmassnahmen vollzieht, die über Radio angeordnet werden – das weiss man nicht», sagt René Müller, der im Aargau für die Evakuierung zuständig wäre.

Er sieht das Potenzial der Evakuierungssimulationen auch darin, dass abgelesen werden kann, an welchen Orten es zu Chaos, Staus oder Unfällen kommen könnte. Wo Polizisten stehen sollten, um den Verkehr zu regeln. Zumindest könnte Stabschef Müller das für die Zonen von Gösgen entscheiden, die im Aargau liegen. Für die anderen AKWs gibt es keine Simulationen, sie sind auch nicht vorgesehen.

Mancherorts besser in den Schutzraum

Doch was für das AKW Gösgen zutrifft, muss in Mühleberg noch lange nicht stimmen: «Dort haben schon weniger Leute überhaupt ein Auto, um zu fliehen. Trotzdem entstünde schneller Verkehrschaos, weil die Strassenkapazität nicht da ist», sagt Christoph Dobler, der die ETH-Studie geleitet hat.

Geschichte der Schweizer Atomkraft

Andreas Gäumann vom bernischen Amt für Bevölkerungsschutz äusserte sich zum Thema Evakuierung vor einigen Monaten bei SRF . Wenn die Zone 2 rund um Mühleberg durch eine radioaktiven Austritt bedroht wäre, geht er davon aus, dass sich die Betroffenen am besten im Keller schützen: «Es ist zum Beispiel nicht sinnvoll, wenn 150‘000 Leute von der Stadt Bern sich gleichzeitig in den Stau stürzen und nachher irgendwo von einer Wolke erwischt werden.»

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