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Mensch Karl der Grosse im Fadenkreuz der Wissenschaft

Ganz vorne in der Klosterkirche Son Jon in Müstair thront Karl der Grosse. Seit über 500 Jahren wacht seine Statue an diesem Ort über die Gläubigen – gilt doch der Frankenkönig als Gründer des Klosters. Doch Wissenschaftler wollen Beweise. Sie erforschen nun die Geschichte der Statue.

Grau ist nur der äussere Schein – die Statue Karls des Grossen zeugt von einer Vergangenheit die viel bunter ist, als es der graue Anstrich, die sogenannte «Steinsichtigkeit», aus den 1950er-Jahren vermuten lässt. Als die Grossplastik 1488 im Baldachin vorne neben dem Altar aufgestellt wurde, war sie bereits einige hundert Jahre alt. Wie viele, ist Gegenstand eines Historikerstreits.

Auch die Genese der Statue interessiert die Wissenschaft. Bekannt ist beispielsweise, dass ihr 1950 die rechte, für damaliges Restauratorenbefinden, unförmige Hand mit einer schmuckeren Version ersetzt wurde. Oder dass Karl einmal der Kopf abgeschlagen und wieder neu aufgesetzt wurde.

Darum haben sich die Universität Bern und der Archäologische Dienst Graubünden letztes Jahr zu einem zweijährigen Projekt entschlossen. Mit der geballten Kraft der interdisziplinären Forschung wollen Kunsthistoriker, Historiker, Material- und Restaurationsexperten sowie ein Physiker Licht ins Dunkel um die Geschichte der Statue bringen.

So erhoffen sie sich im besten Fall Aufschluss über das wahre Alter der Statue. Denn, so Projektleiter Jürg Goll vom Archäologischen Dienst Graubünden, «wenn seine Statue bereits im 9. Jahrhundert hier verehrt worden wäre, kommt Karl der Grosse tatsächlich als Klostergründer in Frage».

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Zwar stützen auch archäologische Befunde die Legende rund um den hochadligen Gründer und Stifter des Klosters Müstair. Dennoch – sicher sind sich die Forscher noch lange nicht.

Röntgenstrahl ins Mittelalter

So steht dieser Tage ein grosses Bauzelt vorne im Kirchenschiff. Darin ist ein ausserordentliches Gerät, das den Forschern erlaubt, in Karl den Grossen hinein zu sehen, ohne ihm auch nur ein steinernes Haar zu krümmen. Es ist ein linearbeschleunigtes und vor allem mobiles Röntgengerät, das sein Erfinder, der deutsche Physiker Joseph Kosanetzky, nach Müstair gebracht hat. 70 mal stärker als das Röntgenbild, das wir vom Arztbesuch kennen, vermag es durch Stuck und Stein und Karl geradewegs hindurch zu strahlen.

Ein Kugelschreiber zeigt auf ein Röntgenbild auf einem Computerbildschirm.
Legende: Jürg Goll zeigt die Stelle, an der das Röntgenbild offenbart, was unter dem Rocksaum Karls des Grossen steckt: die Sägestellen von 1488 SRF

So enthüllt sich den Kunsthistorikern und Restauratoren Erstaunliches. Sie wussten wegen der Materialbeschaffenheit bereits, dass die Füsse der Statue aus Stein und der Körper obendrauf aus Stuck besteht. Schon im Röntgenbild am ersten Morgen der Messungen zeigte sich, dass die Gipsfigur bei ihrer Umplatzierung von 1488 wohl recht radikal von ihren damaligen Füssen weggesägt worden war.

Jürg Goll ist begeistert: «Die Nahtstelle ist ganz sauber klar. Da sieht man wirklich die Materialunterschiede, wie wir sie uns gewünscht haben. Und wir können uns jetzt vorstelllen, wie der Körper auf den Sockel gestellt ist.» Den scharfen Rand verbargen die mittelalterlichen Restauratoren vorsichtig mit neuem Stuck – ein Geheimnis, das sich erst diese Woche mittels der Physik lüften liess.

Der Hohlraum, der Lücken schliesst

Das Kloster Müstair

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  • ist Zeuge christlicher Hochblüte um 800, beherbergt das älteste Profangebäude des Alpenraumes und frühmittelalterliche Wandmalereien. Es ist UNESCO-Weltkulturerbe.
  • ist eines von zehn Schweizer Benediktinerinnen-Klöstern, wo neun Frauen in einer geschlossenen Gemeinschaft leben – daneben gibt es Personal in Hauswirtschaft, Klosterladen und Museum.

Mit der Umplatzierung der Statue von 1488 sind die historischen Restauratoren ihren heutigen Kollegen wohl eher unbewusst zu Hilfe gekommen. Zwischen Karl dem Grossen und der hinter ihm stehenden Säule befindet sich ein Hohlraum – und in diesen sind bei den Arbeiten im 15. Jahrhundert immer wieder Stuck-, Farb- und andere Materialreste gefallen.

Ein Fundus für Materialuntersuchungen, wie sie die Diplom-Ingenieurin Anja Diekamp von der Universität Innsbruck macht. Als Mörtel-Spezialistin erschliessen sich ihr unter dem Elektronen-Mikroskop aus winzigen Farbkrümeln die Welten mittelalterlicher Handwerker: «Die Palette an Farbpigmenten, die im Mittelalter verwendet wurden, ist sehr schmal.» Und darum lassen sich die Proben im Vergleich zu anderen, bereits analysierten Proben, datieren.

Nächstes Jahr soll eine Publikation Aufschluss über die erhobenen Daten und deren Interpretation geben. Dazu Projektleiter Jürg Goll, in geboten differenziertem wissenschaftlichen Optimismus: «Ob sie jetzt karolingisch ist oder jünger, das tut dieser grossartigen Figur eigentlich keinen Abbruch, aber für die Wissenschaft wäre es natürlich eine grossartige Geschichte, wenn wir mehr wüssten.»

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