- Ein Sehbehinderter beauftragte eine Kartografin, eine Schweizerkarte für Blinde und Sehbehinderte zu entwerfen.
- Bisher gab es nur vereinzelt Karten für Sehbehinderte und immer nur von kleinen Gebieten.
- Die Schwierigkeit bestand vor allem darin, möglichst viel Information darzustellen, so dass die Karte für die Finger lesbar bleibt.
Behutsam streicht Werner Huber (Name von der Redaktion geändert) mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand über das Papier, entlang von reliefartigen Strukturen. Er erkennt mit seinen Fingerkuppen sofort den Rhein, der sich durch den Kanton Schaffhausen schlängelt.
Werner Huber ist stark sehbehindert. Er erkennt seine Umgebung nur schemenhaft: Licht, Schatten und die Konturen massiver Gegenstände.
Wandern und reisen ohne Augenlicht
Gesichter sieht Huber nicht, geschweige denn Buchstaben oder andere Zeichen auf Papier. Trotzdem interessiert sich Werner Huber für Landkarten.
«Ich wandere gerne. Da ist es mich wichtig zu wissen, wo ich bin und wo es durchgeht», erzählt Huber. Auch wenn er Bekannte besuchen will, oder in die Ferien geht, würde er gerne auf Karten nachschauen.
Bislang war das eher mühsam. Huber besitzt zwar seit Primarschultagen eine Blindenkarte vom Kanton Thurgau. Die reliefartigen Strukturen waren mit Bindfaden und Papier geklebt. Doch der unternehmungsfreudige Mann wünschte sich die ganze Schweiz.
Vision im Massstab 1:100'000
Letzten Sommer lernte Huber die Kartografin Anna Vetter kennen. Sie arbeitet in Zürich für das Software-Unternehmen Esri: «Digitalisierung ist für mich selbstverständlich. Schon im Studium war Geo-Information ein Thema.»
Mit Karten für Blinde hatte Anna Vetter aber noch nie zu tun gehabt. Zusammen mit ihrem Auftraggeber setzte sie sich ein Ziel: einen taktilen Atlas der Schweiz im Massstab 1:100'000. Dafür übertrug sie einen Datensatz der Schweizer Landestopografie in ihr Geoinformationssystem.
Mit wenig viel darstellen
Dann begann die eigentliche Arbeit: Die Informationen mussten so dargestellt werden, dass ein Blinder sie ertasten kann. Das bedeutete auch, Informationen wegzulassen.
Feld- und Wanderwege sind zum Beispiel nicht im Atlas erfasst. Nur die wichtigsten Informationen nahm Vetter auf. Diese stellte sie dafür gross dar.
Einenbahnlinen sind mit schraffierten Linien dargestellt. Die Ortschaften markierte Vetter mit einem Viereck, Berge mit einem Dreieck. Seen sind schraffierte Flächen.
Knacknuss Brailleschrift
So entstanden 58 Kartenausschnitte der Schweiz. Damit die Informationen nicht zu dicht gepackt waren, griff Anna Vetter zu einem Trick. Sie teilte den 58 Kartenausschnitten je zwei Blätter zu mit Angaben über Gewässer, Gebirge, Ortschaften und das Eisenbahnnetz.
Eine spezielle Knacknuss war die Beschriftung. Damit ein Begriff mit den Fingern ertastbar ist, müssen die Zeichen der Braille-Schrift mindestens einen Zentimeter gross sein. Doch dafür war der Platz auf den Karten zu knapp.
Vetter verkürzte die Ortsnamen auf jeweils zwei Zeichen. Für jeden Kartenausschnitt erstellte sie auf einem separaten Blatt ein Glossar, wo die Namen in Braille-Schrift ausgeschrieben sind.
Pionierarbeit mit Zukunft
Jetzt liegt ein brauchbarer Prototyp des Atlas vor. Werner Huber ist begeistert: «Das ist ein Quantensprung. Jetzt kann man die ganze Schweiz haben. Früher musste man schon für Karten von kleinen Gebieten kämpfen.»
Anna Vetter sagt, sie selber habe keine Chance, die Karte mit geschlossenen Augen zu lesen. Sie staunte, als sie sah, dass es Werner Huber gelang: «Ich war beeindruckt, wie schnell man die Geografie erfassen kann. Schon mit zwei Buchstaben kann man Ortschaften und Flüsse erkennen.»
Esri Schweiz will den Atlas nun an Fach-Konferenzen vorstellen. Denn sogar international ist das Projekt einzigartig. Der Schweizer Blindenatlas könnte somit Modell stehen für Atlanten anderer Länder. Vielleicht hat Werner Huber irgendwann die ganze Welt an seinen Fingerspitzen.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Wissenschaftsmagazin, 22. 4. 2017, 12.40 Uhr.