Im Postamt des Weihnachtsmanns zeigt mir die Elfe Elkke den Wunschzettel eines Kindes aus der Schweiz: Auf hellblau-glitzernden Seiten stehen sage und schreibe 127 Wünsche. Ganz richtig, der Weihnachtsmann hat ein offizielles Postamt. Es liegt in Rovaniemi am «Nordpol», wo ich vor fünf Jahren für eine Reportage war – und mich selbst von den meterhohen Wunschzettel-Türmen aus der Schweiz und dem Rest der Welt überzeugen konnte.
Hunderte von «Elfen» wie Elkke sortieren, stempeln und sistieren täglich Tausende von Wunschzetteln – und sehen, dass die Kinder «sich vor allem haufenweise Paw-Patrol-Spielzeug und Lego wünschen». Bei diesen Ausmassen sei der Weihnachtsmann froh um die organisatorische Hilfe der Eltern, sagte sie damals mit einem Augenzwinkern.
Ein Blick auf die Zahlen zum Geschenkeshopping in der Schweiz zeigt: Die Mamis und Papas machen wirklich einen guten Job.
Versunken in de r Geschenke-Flut?
343 Franken geben Schweizerinnen und Schweizer dieses Jahr für Weihnachtsgeschenke aus. Das sind fast drei Prozent mehr als im vergangenen Jahr. Einer Studie des Beratungsunternehmens EY zufolge bedeutet das zum vierten Mal in Folge einen neuen Höchststand. Auch eine Umfrage in der SRF-Wissen-Community zeigt: Die Berge unter dem Baum werden grösser.
Aber wie wirkt sich das auf die Entwicklung der kleinen Wunschzettel-Schreibenden aus? Wie sieht eine gut portionierte Bescherung aus? Und welche Folgen hat es für Kinder, wenn sie dieses Jahr kleiner ausfällt?
Bei einem Kind, das zwanzig Dinge auspackt, nimmt die Freude über das einzelne Geschenk mit jedem neuen ab.
Es zeigt sich: Wo es weniger Spielsachen gibt, wird kreativer und fokussierter gespielt , darauf deuten etwa Studien der University of Toledo oder der Universität München hin. Tatsächlich landen eben diese Spielsachen aber auf Platz zwei der Dinge, die hierzulande am häufigsten verschenkt werden. Was bedeutet das also für die anstehende Bescherung?
Kognitive Höchstleistung und weniger Freude
«Erstmal kann es Kinder überfordern, mit einer grossen Menge Spielsachen beschenkt zu werden. Sie können und wollen sich nur auf eines konzentrieren, während unter dem Baum noch viele andere warten», so Psychologin Silvia Meyer, die am Zentrum für Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologie in Basel tätig ist.
Das könne Druck auslösen. Vor allem, wenn von Kindern erwartet wird, sich – im schlimmsten Fall noch während des Ausprobierens – den anderen Geschenken zu widmen, damit sich keiner der Schenkenden benachteiligt fühlt.
«Bei einem Kind, das zwanzig Dinge auspackt, nimmt die Freude über das einzelne Geschenk mit jedem neuen ab», erklärt Entwicklungspsychologe Moritz Daum. Denn es brauche Zeit, um gedankenversunken in andere (Spiel-)Welten abtauchen zu können. Rein kognitiv bedeuten viele Geschenke also Höchstleistung für das heranwachsende Gehirn.
Ausserdem ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind irgendwann nicht mehr weiss, von wem welches Päckli war. Auch das führe dazu, dass der mentale und emotionale Wert des Geschenks sinkt, so Daum.
«Ein Kind in den ersten Lebensmonaten und Jahren hat keine materiellen Wünsche. Was es braucht, ist Liebe, Fürsorge, ungeteilte Aufmerksamkeit und Zeit», ergänzt Daum.
Nun wollen die meisten von uns aber gewisse Dinge ans Götti- oder Enkelkind verschenken – und das ist auch gut so. Denn wenn das Kind einen Wunsch erfüllt bekommt, merkt es: Jemand hat sich mit mir beschäftigt, nimmt mein Anliegen ernst und erfüllt es. «Für ein Kind ist das ein Selbstbewusstsein-Booster», erklärt der Entwicklungspsychologe. Voraussetzung ist allerdings, dass die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Schenkenden nicht nur über das Geschenk vermittelt wird.
Kompensation durch Freude-Impulse
Wenn ein Kind viele Geschenke erhält, aber wenig Aufmerksamkeit und Fürsorge, kann das ungute Folgen haben. Ein solches Ungleichgewicht kann dazu führen, dass das Kind immer mehr Geschenke möchte. «Kinder kompensieren so ein Ungleichgewicht, indem sie materielle Güter sammeln.» Erwachsene machen das übrigens genauso.
Gefährlich wird es also, wenn ein Kind den materiellen Gegenstand mit seinem Selbstwert verknüpft: «Ich bin nur dann etwas wert, wenn ich etwas habe.» Oder: «Ich bin nur dann wertvoll, wenn ich etwas geschenkt bekomme, das ich haben will.»
Durch den Akt des Schenkens lernen Kinder Empathie und soziale Kompetenz.
Die Folgen können gravierend sein: Wenn etwa das Geschenk in einem Jahr kleiner ausfällt als im Jahr zuvor, schliesst das Kind womöglich daraus, dass es den Eltern weniger wert ist. Das lässt sich sogar neurologisch nachweisen: Untersuchungen zeigen, dass im Gehirn bei so einem Bedürfnisdefizit ein Mangel des Glückshormons Dopamin besteht.
Unser Hirn versucht diesen Mangel mit sogenannten punktuellen Freude-Impulsen auszugleichen – und die spürt der Mensch am besten, wenn er immer wieder etwas Neues bekommt.
Eine Studie der University of Missouri konnte sogar zeigen, dass «Kinder, die viele und teure Geschenke erwarten, negative soziale und emotionale Auswirkungen haben können, die weit über ihre Kindheit hinausreichen», wie die Hauptautorin der Studie schreibt.
Als Erwachsene seien diese Kinder anfälliger für Kreditkartenschulden, Glücksspiel und zwanghaftes Einkaufen, da sie einen unstillbaren Hunger nach mehr hätten, was sie zu süchtigen Verhaltensweisen prädisponieren könnte.
Schenken für soziale Kompetenz
Nichtsdestotrotz: Geschenke spielen eine enorm wichtige Rolle bei der Entwicklung eines Kindes: Durch den Akt des Schenkens werde etwa soziale Kompetenz erlernt, wie die Basler Psychologin Silvia Meyer erklärt: «Grundsätzlich lernen Kinder am meisten am ‹lebenden Modell›.» Also dadurch, dass sie Erwachsene beobachten und ihr Verhalten imitieren.
Wenn ein Kind davon träumt, Hockeyspielerin zu werden, bedeutet das Equipment unterm Baum: Ich weiss, wie du sein willst und ich lasse dich so.
Wenn die Kleinen sehen, wie Eltern reagieren, wenn sie ein Geschenk bekommen oder überreichen, erkennen sie darin soziale Normen. Etwa dass man eine Kleinigkeit mitbringt, wenn man zum Essen bei Freunden eingeladen ist oder dass man sich bedankt, wenn man etwas erhält. In der Soziologie spricht man auch von «Reziprozität», dem Prinzip der Gegenseitigkeit: Diese Norm führt dazu, dass wir Geschenke erwidern, wenn wir welche erhalten haben.
Frustration und Freude lernen
Kinder lernen auch, mit Frust umzugehen, wie der Zürcher Sozialpsychologe Johannes Ullrich erklärt: «Sie erfahren: ‹Selbst wenn ich mir etwas ganz fest wünsche, ist es möglich, dass ich es nicht bekomme.› Eine wichtige Lektion, die über das ganze Leben Relevanz behält.»
Wer sich mit den Kindern zusammensetzt und überlegt, was der Freundin oder dem Grosi Freude machen könnte, schult ihre soziale Kompetenz und die Empathie. Und: «Im Anschluss sammelt es noch eine wahnsinnig wichtige Erfahrung: dass Beschenken genauso viel Freude macht, wie Geschenke zu erhalten», so Moritz Daum.
Perspektivwechsel ist wichtig – nicht nur bei Geschenken
Ein Entwicklungsmeilenstein, der fürs Schenken relevant ist, findet bei Kindern übrigens zwischen vier und fünf Jahren statt. Dann lernen sie «Perspektivwechsel».
Dieser hilft ihnen zu verstehen, dass auch andere ein Bedürfnis haben – und dass dieses nicht unbedingt mit ihrem übereinstimmen muss. Wichtig beim Schenken. «Sie verstehen, dass es nicht nur darum geht, dass sie etwas bekommen. Sondern, dass der andere ihnen auch etwas geben will», so Silvia Meyer.
Zu guter Letzt sind Geschenke auch ein Kommunikations-Tool: «Man sagt damit ‹Du bist jemand für mich. Du gehörst sogar zu den Auserwählten, die etwas von mir erhalten›», erklärt der Sozialpsychologe Ullrich.
Dazu kommen die unzähligen Möglichkeiten, mit denen wir über die Art des Geschenkes etwas aussagen: Sehe ich die Person als eine Person, die Hobbys hat? Sehe ich sie so, wie sie sich selbst sieht? «Wenn ein Kind davon träumt, Hockeyspielerin zu werden, bedeutet das Equipment unterm Baum: Ich weiss, wie du sein willst und ich lasse dich so», so der Experte.
Langanhaltender Glücksrausch
Doch auch wir haben etwas davon – dank unserer Hormone: «Untersuchungen zeigen, dass die Dopaminausschüttung stärker ist, wenn wir andere beschenken, als wenn wir uns selbst etwas kaufen», so Wirtschaftspsychologe Christian Weibel von der Hochschule Luzern.
Andere zu beschenken, macht uns nicht nur glücklicher, der Effekt hält sogar länger an. «Das führt auch dazu, dass wir beim Beschenken von anderen weniger preissensibel sind.»
Geld und Gutscheine: Beliebte Geschenke der Schweiz
Die beliebtesten Schweizer Geschenke sind Geld und Gutscheine. Nur: Bis die Kinder im Schulalter sind, spielt der monetäre Wert eines Geschenks quasi keine Rolle. «Bis dahin fehlt ihnen die Relation zu Geld. Ob etwas 20 oder 500 Franken kostet, können sie nicht abstrahieren», erklärt Silvia Meyer.
«Ab dem Zeitpunkt, an dem dann die ersten eigenen Arbeitserfahrungen gemacht werden, können Kinder beziehungsweise Jugendliche Preise besser einschätzen.» Sie sehen etwa, wie lange sie im Ferienjob arbeiten müssen, um so viel zu verdienen, dass sie sich das Handy oder die Playstation leisten können.
Studien zeigen sogar, dass die Zufriedenheit der Beschenkten bei Gutscheinen grösser ist als bei einem gut gemeinten Gesellschaftsspiel oder Buch, das sich die Person aber gar nicht gewünscht hat.
Museum statt Materielles
Und was ist mit all denjenigen, die sich – ausgelöst durch die Inflation oder anderen Gründen – dem Geschenke-Wahnsinn nicht hingeben können oder wollen? Hier hilft es, den Kindern gegenüber transparent zu sein, um Enttäuschungen vorzubeugen: «Eltern sollten unbedingt vorab erklären, dass sich gewisse Wünsche erfüllen lassen und andere nicht», so Meyer.
Man könnte dem Kind beispielsweise erklären: «Du hast ja ein Pferd auf den Wunschzettel geschrieben. Das werden wir so nicht erfüllen können. Aber lass uns doch überlegen, was wir daraus machen können.» Der Kompromiss könnte dann ein Gutschein für Reitstunden sein. «Gut ist es, bei sehr vielen Wünschen nachzuhorchen, an welchen das Herz hängt. Gemeinsame Ausflüge oder Aktivitäten sind ohnehin sinnvoller als Materielles.»
Das zeigen auch Untersuchungen: Die Erinnerungen an die Erlebnisse, die Kinder haben, halten viel länger an als die Aufregung über das Spielzeug, das sie an Weihnachten erhalten. Und: Forschende der Cornell University fanden heraus, dass «Menschen dankbarer und sogar grosszügiger sind, wenn sie Erlebnisse statt materieller Geschenke erhalten».
Glück entsteht eben durch Erfahrungen und nicht durch Dinge. Gut, dass wir das in den kommenden Tagen gleich ausprobieren können.