Da, wo vergangene Woche noch Häuser standen und Wiesen wuchsen, liegt heute eine gigantische Gefriertruhe. Der Inhalt: zwei Drittel Geröll und ein Drittel Wasser. Das meiste davon gefroren.
Was sich im Innern des Schuttkegels tut und wie sich die neun Millionen Kubikmeter mächtige Masse verhalten wird, lässt sich nur aus der Erfahrung mit früheren Eis-Fels-Lawinen rekonstruieren. Zu instabil ist, was sich da auf dem Talboden im Lötschental auftürmt.
Es wird sicher Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis das Eis geschmolzen ist.
Klar ist: Das wird eine lange Geschichte, sagt Christian Huggel, Klimaforscher und Geograf an der Universität Zürich: «Es wird sicher Jahre bis Jahrzehnte dauern, bis das Eis geschmolzen ist.»
Von früheren Katastrophen lernen – Val Roseg und Nordossetien
Eis-Fels-Lawinen entstehen meist durch Erschütterungen – wie starke Temperaturveränderungen oder Erdbeben – von Gletschern oder Hängegletschern.
Das Eis im Schuttkegel schmilzt jeweils nur sehr langsam. Das zeigt sich zum Beispiel in der Karmadon-Schlucht im russischen Nordossetien, wo eine gewaltige Eis- und Gerölllawine vor 20 Jahren über 100 Menschen das Leben gekostet hat. Noch heute taut das Eis in der riesigen, 80 Millionen Kubikmeter mächtigen Schuttebene.
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Bild 1 von 2. Im Engadiner Val Roseg ist im Mai 2024 eine ähnlich grosse Lawine vom Piz Scerscen niedergegangen wie 2025 im Lötschental. Bildquelle: Keystone / Gian Ehrenzeller.
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Bild 2 von 2. In der Karmadon-Schlucht im russischen Nordossetien taut das Eis in der mächtigen Schuttebene nur langsam auf. Bildquelle: Keystone / Ivan Sekretarev.
Auch im Engadiner Val Roseg wird sich in den kommenden Jahren beobachten lassen, wie sich der Schmelzprozess verhält. Im Mai 2024 ist dort eine ähnlich grosse Lawine vom Piz Scerscen niedergegangen wie jetzt im Lötschental – allerdings in unbewohntem Gebiet und daher weit weniger beachtet.
Bei Eis-Fels-Lawinen werden Eis und Gestein durch die schiere Wucht und Energie des Sturzes komplett zerbröselt und beim Aufprall wieder zusammengedrückt.
Es ist völlig ausgeschlossen, dass man wieder ein Dorf oder Strassen – auch nicht provisorische – auf diese instabilen Ablagerungen bauen kann
Zurück bleibt ein gleichmässiges, aber über viele Jahre unruhiges Gemisch aus Stein und Eis und damit eine Landschaft, die jahrelang schrumpft und nachrutscht und sich dem Zugriff des Menschen entzieht. Auch in Blatten.
Auf die Ablagerungen zu bauen, ist unrealistisch
«Es ist völlig ausgeschlossen, dass man wieder ein Dorf oder Strassen – auch nicht provisorische – auf diese instabilen Ablagerungen bauen kann», sagt Christian Huggel. Eine Strasse ins hintere Lötschental müsste wohl weit oben am Gegenhang entlangführen, so die Einschätzung des Klimaforschers und Geografen.
Die Rückeroberung der Natur
Unrealistisch sei auch die Hoffnung, den Kegel einfach abtragen und die Schuttmasse wegtransportieren zu können. Schlicht wegen der Menge des Materials und der Gefährlichkeit einer solchen Aktion.
Heute breitet sich über Blatten auf einer Länge von bis zu zwei Kilometern eine Masse aus Geröll und Eis von graubrauner Farbe aus. Jetzt noch. Denn es werden bald schon die ersten Pflanzen zur Rückeroberung ansetzen. Auch wenn die Ablagerungen noch lange kalt bleiben, wachsen die ersten Pionierpflanzen wohl schon diesen Sommer. So, wie man es von Gletschervorfeldern kennt.
Die Vergangenheit kommt nicht zurück
Nächstes Jahr dürften die ersten Büsche wachsen und irgendwann auch Bäume. Denn die Vegetation kann recht gut mit unstabilem Terrain umgehen.
Im Gegensatz zum Menschen, für den der Schuttkegel unbrauchbares Land ist. Es sei denn, es gelingt irgendwann in der Zukunft die jetzt noch mit Schrecken und Verlust verbundene Masse emotional neu aufzuladen und praktisch umzufunktionieren. Zu einem Schutzgebiet. Quasi als Geschenk an die Natur, aber eben auch an die Menschen.