«In den letzten Tagen gab es viel Austausch und Diskussionen unter Gletscherforschenden», erzählt Matthias Huss von der ETH Zürich. Zusammen versuchen sie, die Mechanismen des aussergewöhnlichen Gletschersturzes genauer zu verstehen und nachzuzeichnen. Das soll auch bei der Früherkennung von zukünftigen Ereignissen helfen.
«Surge» wie ein Vorzeichen
Den Birchgletscher beobachteten Forschende und Behörden schon seit Längerem. So entdeckte man eine «dynamische Instabilität» des unteren Gletscherteils. «Bei einer dynamischen Instabilität beginnt die Gletscherzunge plötzlich vorzustossen, obwohl der Gletscher aufgrund der Erwärmung weiterhin gesamthaft an Masse verliert», erklärt Huss. Der Prozess, auch «Surge» genannt, kommt bei Gletschern im Himalaya und Alaska ab und zu vor. In den Alpen aber so gut wie nie.
Ab etwa 2019 war die Gletscherzunge des unteren Birchgletschers rund 50 Meter vorgestossen. Gründe, wie so eine «Surge» entsteht, sind nicht genau bekannt. Huss: «Dieses schnellere Fliessen erscheint nun wie ein Vorzeichen für das, was jetzt in sehr verstärktem Ausmass vor dem Abbruch passiert ist».
Gletscher verliert Haftung
Schon Wochen vor der Katastrophe landen grosse Mengen an Fels und Geröll vom Kleinen Nesthorn auf dem Gletscher. Dadurch steigt der Druck auf das Eis, was den Schmelzpunkt verändert. Es bildet sich Wasser am Gletscherbett, also an der Unterseite. Und auch im Inneren des Gletschers.
Dazu kommen noch die Schneeschmelze und ein Regenereignis: Der Gletscher fliesst immer schneller. Und haftet immer schlechter auf seinem Untergrund.
Der ganze Gletscher ist mit all dem Schutt drauf abgerutscht, das ist wirklich sehr aussergewöhnlich.
Den letzten Anstoss zum Abbruch gibt das Abrutschen einer ganzen Partie der Flanke des Kleinen Netsthorns. Damit sei eine kritische Grenze erreicht worden. «Der ganze Gletscher ist mit all dem Schutt drauf abgerutscht, das ist wirklich sehr aussergewöhnlich», so Huss.
Impressionen vom Birchgletscher und der Talsohle
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Bild 1 von 5. (03.06.25). Bildquelle: ETH.
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Bild 2 von 5. (03.06.25). Bildquelle: ETH.
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Bild 3 von 5. (03.06.25). Bildquelle: ETH.
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Bild 4 von 5. (03.06.25). Bildquelle: ETH.
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Bild 5 von 5. (03.06.25). Bildquelle: ETH.
Rund drei Millionen Kubikmeter Eis und sechs Millionen Kubikmeter Gestein sind am Mittwoch ins Lötschental abgestürzt – so die aktuellen Schätzungen. Aus Bildern, die Swisstopo vor und nach dem Bergsturz erstellt hat, sollen nun die abgestürzten Volumina noch genauer berechnet werden.
Wie viel von dem Eis unter dem Geröll im Tal begraben liegt, ist nicht genau klar. Und das sei im Augenblick schwierig einzuschätzen, sagt Matthias Huss. «Wie viel Eis liegt da tatsächlich? Und wie verhält es sich, wenn es wärmer wird?»
Wasser auch im Schuttkegel ein Problem?
Christian Huggel, Professor am Geographischen Institut der Universität Zürich, hat viel Erfahrung mit solchen Eis-Fels-Lawinen. Eine riesige hat er im Kaukasus untersucht. Oder jene des letzten Jahres, im Val Roseg im Engadin. Das Eis werde in so einer Eis-Fels-Lawine wohl grösstenteils «zerbröselt» und relativ regelmässig verteilt, so Huggel. Am Ende im Tal ist diese Masse sehr kompakt, mit viel Feuchtigkeit drin.
«Der Schnee und das Eis in diesen Schuttkegeln ist zum Teil sehr gut konserviert, weil viel Material darüber liegt», so Huggel. Es sei wie beim Snowfarming in Skigebieten, wo Schneeberge zugedeckt werden, und so über den Sommer gerettet werden. «Das schmilzt nur langsam, das kann Jahre oder Jahrzehnte dauern.» Je mehr Eis jedoch schmilzt, umso mehr werde der Schutt zusammensacken. «Das heisst: diese Ablagerungen werden über Jahre hinweg instabil sein.»