Es ist ein Sonntag Ende Juli. Auf der Südbündner Alp Niemet in der Nähe der italienischen Grenze fehlen insgesamt 34 Rinder. Seit Tagen sind dort oben 8 adulte Rinder, 24 Jungtiere und 2 Kälber verschwunden. Niemand hat sie mehr gesehen.
Das Älplerpaar, das für eine Herde von insgesamt 200 Rindern und 150 Ziegen verantwortlich ist, befürchtet das Schlimmste. Denn vor allem das anhaltende schlechte Wetter im Juli mit viel Nebel und Regen hat die Sicht und die Arbeit auf dem riesigen Weidegebiet immer wieder erschwert.
Ein aussergewöhnlicher Suchtrupp mit vier Hightech-Drohnen macht sich deshalb bereit. «Wir haben sehr spontan sieben Leute für das Rettungsteam zusammengestellt und sind sofort losgefahren», sagt der ehrenamtliche Drohnenpilot Alain Marti von Rehkitzrettung Schweiz. Er ist im Rahmen eines Pilotprojekts bei der spektakulären Suchaktion dabei.
Die Alp Niemet liegt über der Baumgrenze auf knapp 1900 Metern. «Weil es in der Gegend keine Mobilfunkabdeckung gibt, haben wir nur gedruckte Karten und Funkgeräte als einzige Kommunikations- und Navigationshilfe für die Suche», sagt Alain Marti, der ansonsten Fachbereichsleiter an der Interkantonalen Polizeischule ist. Doch das Älplerpaar ist gut vorbereitet. Es nennt verschiedene mögliche Aufenthaltsorte der Tiere sowie deren Ohrmarken.
«Steile Hänge, schroffe Felsen oder dicke Nebelschwaden erschweren die Suche», sagt Ernst Wandfluh, Präsident des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands. Aus diesem Grund hat er entschieden, diese Saison erstmals ausgebildete Drohnenpiloten der Rehkitzrettung Schweiz auf die Alp zu schicken.
Der Forscher Maximilian Meyer von Agroscope begleitet diesen einmaligen Versuch und erhebt unter anderem Daten wie Zeitersparnis oder Erfolgsquote. «Wir wollen feststellen, wie gross der Bedarf tatsächlich ist», sagt der Agrarökonom. Denn es könne auch Fälle geben, bei denen sich die verloren gegangenen Alptiere in eidgenössischen Jagdbanngebieten aufhielten. Dort dürfen Drohnen auch für eine Suche von vermissten Tieren aus rechtlichen Gründen nicht fliegen. In diesen Gegenden dürfen die Hightech-Fluggeräte somit nicht abheben.
Gezielte Suche aus der Luft
Nicht so auf der Alp Niemet, wo die grösste Herausforderung das unübersichtliche Gelände ist. Es gibt dort unter anderem diverse Hochebenen, die zum Teil 200 oder 300 Meter über der Alp liegen. Um sich einen Überblick über die ganze Herde zu verschaffen, müsste man somit ständig das unwegsame Gelände ablaufen oder erklimmen. Das ist aus zeitlichen und personellen Gründen aber gar nicht möglich.
«Um 15:30 Uhr steigen die ersten Drohnen auf.» Es dauert nur wenige Minuten, bis sich der Erfolg einstellt: 24 Jungtiere werden erspäht, 200 Meter über dem gewohnten Weidegebiet. So weit oben sind sie noch nie zuvor gewesen. Doch Wärmebildkameras zeigen eindeutig ihre Körper als hell leuchtende Flecken in der Landschaft.
Sind es wirklich auch jene Tiere, die vermisst werden? Dank guter Zoomkameras auf den Drohnen lassen sich die Rinder sogar aus rund 60 Metern über der Herde genau identifizieren – anhand der Ohrenmarke. «Dies ist nicht ganz einfach, weil einige von ihnen recht viele Haare an den Ohren haben», sagt Marti. Die nicht erkennbaren Zahlen können zum Glück am anderen Ohr entziffert werden. Auf diese Weise haben die Drohnenpiloten den Älplern einen zweistündigen Aufstieg erspart.
Auch die acht adulten vermissten Rinder werden kurz danach entdeckt: an einem anderen Ort, auf einer Höhe von über 2200 Metern, in zwei Vierergruppen. Erneut der gleiche Ablauf: optische Bestätigung, Standort durchgeben und grosse Erleichterung.
Bereits 32 Tiere sind mit den surrenden Hightech-Fluggeräten aufgespürt. Zwei Kälber fehlen aber noch. Die Suche geht in einem anderen Gebiet weiter. Die beiden Kälber werden schon mehr als eine Woche vermisst. Das Älperpaar befürchtet das Schlimmste: wahrscheinlich sind sie irgendwo abgestürzt.
«Solche Situation kommen leider immer wieder vor», sagt Ernst Wandfluh, oberster Chef der Älpler. Man könne dort oben nicht ständig Hunderte von Tieren im Blick haben. Hinzu käme, dass das weitläufige Gelände dies oft auch gar nicht zulasse. Deshalb setzt er sich für die Digitalisierung und Einführung von ausgewählten technischen Hilfsmitteln ein. Denn dies kann den Älplern und Älplerinnen den oft sehr harten Alltag erleichtern.
Tradition versus digitalisierte Alp 2.0
Auf seiner Alp im Berner Oberland testet Ernst Wandfluh beispielsweise gerade eine neue Tracking-App, für die die Hälfte der Kühe einen GPS-Sender um den Hals trägt. Neben der Kontrolle durch Drohnen sei dies eine weitere Möglichkeit.
Die schnelle Übertragung der Daten erlaubt theoretisch eine Beobachtung in Echtzeit. Das ist aber nur möglich, weil er auf seiner Alp seit Kurzem eine gute Internetverbindung mit bestem Empfang hat.
Die Fahndung nach den zwei noch vermissten Kälbern auf der Alp Niemet läuft nach dem grossen Erfolg mit den bereits 32 gefundenen Rindern weiter. «Wir haben zu dem Zeitpunkt noch nicht aufgegeben und einen letzten Versuch gestartet», sagt Marti. Die Alpwirtschafter seien davon ausgegangen, dass die zwei Kälbchen bereits vor ein paar Tagen über eine Felswand gefallen seien und man deshalb nun eine Kadaver-Suche machen müsse.
Erst die Drohne, dann der Heli
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Bild 1 von 5. Fundsituation: Die Kameras der Drohnen können die Kälber zwischen den Felsen erkennen. Bildquelle: RKRS.
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Bild 2 von 5. Der Helikopter mit dem Tierarzt an Bord landet. Bildquelle: RKRS.
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Bild 3 von 5. Die beiden Kälber bekommen das Fluggeschirr für den Transport per Helikopter angelegt. Bildquelle: RKRS.
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Bild 4 von 5. Ein abgemagertes Kälbchen wird mit dem Helikopter zurück auf die Alp gebracht. Bildquelle: RKRS.
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Bild 5 von 5. Anflug des Helikopters auf die Alp Niemet nach erfolgter Rettung. Bildquelle: RKRS.
Es ist 16:20 Uhr, als sich plötzlich im Luftbild zwei kleine Punkte vom felsigen Hintergrund abheben. «In einer schmalen Schlucht mit ein bisschen Grünzeug und einem sprudelnden Wildbach stehen tatsächlich zwei Kälber – eng aneinander geschmiegt, abgemagert, geschwächt – aber am Leben», so Marti. Die Freude ist gross, doch schnell stellt sich die Frage: Wie kriegt man die erschöpften Tiere dort überhaupt heraus?
Rund eine Stunde später taucht ein Helikopter über dem schwer zugänglichen, steilen Gelände auf. Nach kurzer Begutachtung durch den Tierarzt fixieren Seile die geretteten, eigentlich schon tot geglaubten Kälber. Über den Luftweg kehren die völlig erschöpften und unterernährten Tiere zum Aufpäppeln zurück zum Älplerpaar. Ein erfolgreicher Einsatz und eine Premiere für die Drohnenpiloten der Rehkitzrettung Schweiz.