Donat ist 18 Jahre alt, als er sich aufmacht, die grosse, sagenumwobene Höhle seines Dorfs zu erforschen. Auf den ersten Blick wirkt die Höhle dunkel und verlassen. Doch dann sieht er einen Spalt im Felsen. Er schlüpft hinein, entdeckt ein Bett aus Moos und Farnen, legt sich hin und schläft ein. Als er aufwacht, ist die Höhle hell erleuchtet, und eine schöne Fee steht neben ihm. Sie sagt: «Donat, du gefällst mir, willst du bei mir bleiben?»
Feen, Zwerge und andere Fabelwesen
Das Abenteuer von Donat und der Höhlenfee ist eine waadtländische Volkssage. Sie zeigt beispielhaft, welchen Zugang die Menschen früher zur Unterwelt pflegten: Sie wagten sich zwar kaum über den Eingang einer Höhle hinaus, das Dahinter aber malten sie sich umso fantasievoller aus: Drachen, Feen, Zwerge, Einsiedler, Hexen und andere Fabelwesen bevölkerten in ihrer Vorstellung diese unterirdische Welt.
Das neue Buch «In den Höhlen der Schweiz» widmet solchen Geschichten das erste von vier Kapiteln. «Die Menschen haben sich ihre eigenen Erzählungen zusammengereimt, ohne eigentlich zu wissen, was im Untergrund läuft», sagt der Geologe und Mitautor Marc Lütscher.
Unterirdische Vielfalt
Ende des 19. Jahrhunderts beginnen abenteuerlustige Männer – Frauen damals kaum –, Höhlen systematisch zu erforschen. Doch die magischen Eigenschaften, die dem Untergrund einst zugeschrieben wurden, seien nicht in Vergessenheit geraten, schreiben die Autoren.
Wer das Buch liest, gerät selbst in diesen magischen Bann. Dazu tragen vor allem die spektakulären Bilder des Fotografen Rémy Wenger bei: Der Sog in die Tiefe beim bernischen Häliloch, wo es beim Einstieg 100 Meter in die Senkrechte geht. Schimmernde Mondmilch im solothurnischen Nidlenloch, das vor 200 Jahren entdeckt wurde. Unterirdische Seen und Flüsse. Höhlenperlen, glänzende Tropfsteinröhrchen, die von der Decke hängen, rosettenförmige Stalagmiten und weitere Schätze im Höhlensystem Siebenhengst-Hohgant, dem zweitgrössten nach dem Hölloch. Beide Höhlensysteme sind über 150 Kilometer lang und reichen mehr als 1000 Meter in die Tiefe.
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Bild 1 von 6. Die Grotte aux Fées (Feengrotte) im Kanton Waadt war eine bescheidene Höhle, die schon seit Langem bekannt war. 2004 entpuppte sie sich als Eingang zu einem riesigen Höhlensystem, mit über 35 km Länge das längste im Juramassiv. Bildquelle: Rémy Wenger.
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Bild 2 von 6. Der Abri de Vautenaivre (JU) ist ein spektakulärer Ort am rechten Ufer des Doubs. Der Bewässerungskanal («Bief») überwindet dort einen überhängenden, im Winter mit Eis bedeckten Felsriegel, unter dem man sich vor der Gischt schützen kann. Bildquelle: Rémy Wenger.
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Bild 3 von 6. Karren sind Kalksteinwüsten, deren Risse zu spannenden Entdeckungen führen können: hier im Karst am Wildhorn (VS) auf 2800 m Höhe. Bildquelle: Rémy Wenger.
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Bild 4 von 6. La Zebra ist eine Höhle im Marmor des Val d’Antabia (TI), die erst vor wenigen Jahren entdeckt wurde. Bildquelle: Rémy Wenger.
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Bild 5 von 6. Die Acqua del Pavone (TI) ist hydrogeologisch eine Traverse: Das Wasser hat sich vom Schluckloch («Ponor») bis zum Quellaustritt einen Weg durch das metamorphe, schieferungsflächige Marmorgestein gegraben. Bildquelle: Rémy Wenger.
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Bild 6 von 6. Ins Häliloch (BE) geht es 100 m gerade hinunter. An einem einzigen Seil über dem Schlund hängend, fühlt man sich als Forscher winzig klein. Bildquelle: Rémy Wenger.
Was treibt Menschen dazu, sich unter die Erde zu wagen? Es sei zuallererst die Abenteuerlust, gesteht Marc Lütscher: «Wer das selbst nie gemacht hat, wird sich schwer vorstellen können, wie es in einer Höhle tatsächlich ist – ist es warm, kalt, nass oder eng? Solche Erfahrungen bekommt man erst mit dem Begehen von Höhlen.»
Wo fliesst das Grundwasser?
Doch Höhlenforschung ist mehr als Abenteuer. Sie stellt sich immer mehr in den Dienst der Wissenschaft – im Buch bildet das den umfangreichsten Teil. Der Untergrund ist die Fortsetzung von dem, was oben sichtbar ist. Er beantwortet zum Beispiel geologische Fragen, oder wo genau das Grundwasser fliesst. Manchmal beeinflusse der Untergrund die Oberfläche ganz direkt, sagt Marc Lütscher, etwa wenn es um Bauarbeiten gehe wie Strassen- und Tunnelbau, Dämme oder Windräder: «Da muss man wissen, ob es darunter Höhlen gibt.»
Erst fünf Prozent der Höhlen in der Schweiz sind erforscht, und jeder neu erforschte Meter ist eine Pionierleistung. Wer sich nicht selbst in Höhlen wagt, kommt ihnen in diesem Buch zumindest sehr nah.