«Bei Meereis denkt man an eine kalte, lebensfeindliche Umgebung», sagt der Meeresbiologe Rolf Gradinger von der Universität von Alaska. Es ist Mitte Mai, und er steht auf dem gefrorenen arktischen Ozean, etwa 500 Meter vor der Nordküste Alaskas. Aber die Ansicht vom toten Eis stimme gar nicht: «Wenn wir im Frühling einen Ort suchen, an dem das Leben in der Arktis erwacht, dann schauen wir im Eis.»
Ein Mikrokosmos in der arktischen Kälte
Meereis ist durchzogen von mikroskopisch kleinen Kanälen, durch die salzhaltiges Wasser zirkuliert – und in denen das Leben tobt: Mikroskopische Wesen pulsieren durch die Kanäle: Algen, Würmer, kleine Krebse.
Die Algen bilden die Basis dieses Kleintierzoos. Sie fangen das Sonnenlicht auf, das im Frühling durchs Eis dringt, und nutzen seine Energie zur Produktion von Nährstoffen. An manchen Stellen wachsen so viele Algen, dass die untersten Bereiche des Meereises braun werden. Die anderen Organismen im Eis fressen diese Algen oder sie verspeisen sich gegenseitig.
Wenn das Eis im Frühling schmilzt, dringen die Organismen aus den Kanälen ins offene Wasser. Dort vermehren sich die Algen im zunehmenden Sonnenlicht des Sommers massenhaft – es entsteht eine Algenblüte: «Das ist wie auf einer blühenden Wiese», vergleicht Rolf Gradinger. Die Algen bilden die Nahrung für Krebschen und anderes Getier im Meer.
«Schwimmende Brote» für Vögel und Wale
Ein wichtiger Algenfresser ist der arktische Copepode, eine Krebsart. Mit einer Grösse von einem Zentimeter ist sie gross genug, dass sie direkt von Meeresvögeln und sogar Walen gefressen werden kann. «Im Frühling sieht man darum an den Eisrändern oft grosse Ansammlungen von Vögeln und Walen», sagt Gradinger.
Doch nun erwärmt sich das Klima, damit auch der arktische Ozean, und im Sommer geht das Meereis immer mehr zurück. Dies bringt das Lebensgefüge durcheinander. Durch die höheren Wassertemperaturen sind bereits Organismen vom Süden her eingewandert.
Darunter ein Cousin der arktischen Copepoden-Arten. Würden die nördlichen Spezies verdrängt, hätte dies weitreichende Folgen. Denn der arktische Copepode ist ein stiller Held des hohen Nordens: er ist das wichtigste Futtertier, da relativ gross und sehr fettreich. «Wie schwimmende Brote», sagt Gradinger, «nahrhafte Happen für Vögel und Wale.»
Kleine Arten – mit grossen Auswirkungen
Die südlicheren Copepoden-Arten sind kleiner und enthalten weniger Energie: Junkfood im Vergleich zu ihren nahrhafteren Cousins aus dem Norden. In einer überaus harten Umwelt wie der Arktis kann das schlechtere Futter zum Problem werden für Vögel oder Fische, die von den Copepoden leben. Und wenn deswegen manche Fischarten zurückgehen, dann könnten wiederum Meeressäuger wie Robben darunter leiden, die von diesen Fischen abhängen.
Manche Robbenarten jagen vom Meereis aus und ziehen darauf auch ihre Jungen gross. Der Klimawandel stellt sie also gleich vor zwei Probleme: Er vermindert ihr Nahrungsangebot und beraubt sie im Sommer ihrer Jagdplattform. Grosse Veränderungen gehen in der Arktis vor sich, sagt Rolf Gradinger: «Die Frage ist, ob das Ökosystem irgendwann kippt, so dass eine ganz andere Gruppe von Organismen dort leben wird.» Darüber eine Voraussage zu treffen, sei aber zurzeit unmöglich.
Wie wird die Arktis in der Zukunft aussehen?
Niemand weiss zurzeit, ob in 50 Jahren die Ringelrobbe noch vom Meereis aus jagen wird, ob der Eisbär noch regiert im hohen Norden. Oder wie zahlreich die arktischen Copepoden überleben werden oder welche Meeresalgen.
Zu alledem hat die Wissenschaft erst in den letzten Jahren überhaupt bemerkt, wie reichhaltig und verschieden die Ökosysteme in der Arktis sind. Vieles davon ist noch unbekannt, von vielen arktischen Meeresteilen weiss die Wissenschaft noch nicht einmal, wer heute dort alles lebt.
Das heisst: viele Aspekte der epochalen Umwälzungen, die in der Arktis zu erwarten sind, werden wir vielleicht noch nicht einmal bemerken. Weil wir gar nicht so genau wissen, wie sie heute aussieht.