Die Erforschung des schwanzlosen Menschen beginnt 2019 in einem New Yorker Uber-Taxi. Auf der Rückbank sitzt Bo Xia, ein Doktorand in Stammzellbiologie. Als er zur Seite rückt, um einem anderen Passagier Platz zu machen, landet er mit dem Hintern unsanft auf der Schnalle des Sicherheitsgurts.
Er fragt sich: «Warum tut das so verflixt weh? Es muss mein Steissbein sein! Aber warum eigentlich habe ich ein Steissbein und keinen Schwanz?»
Vom schmerzenden Steissbein angetrieben
Die Geschichte erzählt Itai Yanai, Professor für Genetik und Systembiologie – Bo Xias wissenschaftlicher Betreuer. Das Steissbein des jungen Doktoranden schmerzte noch monatelang. Er begann, die genetischen Gründe für unser Leben ohne Schwanz zu erforschen.
Bo Xia vergleicht am Computer das Erbgut von Gorillas, Schimpansen und Orang-Utans mit jenem von Affen, die einen Schwanz haben – Makaken, Kapuzineräffchen und weiteren Arten. «Für viele tönt das vielleicht naiv: mit blossem Auge das Erbgut durchforsten, aber Bo machte einfach stur weiter, und irgendwann sah er etwas, das so aussah, als könnte es die Antwort sein.»
Der junge Forscher stösst auf eine Mutation, die mitten in jenem Gen sitzt, welches das Wachstum des Schwanzes steuert. Itai Yanai: «Nur Organismen, denen der Schwanz fehlt, weisen diese Veränderung auf. Beschwanzte Affen haben sie nicht.» Als die Forscher Mäuse züchten mit dieser mutierten Genvariante, wachsen den Tieren keine oder nur stark verkürzte Schwänze.
Mit ihrer Studie können die US-Forscher also den genetischen Vorgang erklären, wie unsere Vorfahren den Schwanz verloren. Es bleibt die Frage: Warum passierte das überhaupt?
Evolutionärer Vorteil?
Dieter Ebert ist Professor für Zoologie und Evolutionsbiologie an der Universität Basel. Er findet die Arbeit der US-Genetiker hochinteressant – sie liefere ein spannendes Puzzleteil in der Frage, wie Unterschiede zwischen den Organismen in der Evolution zustande kommen.
Die Mutation, die dazu geführt hat, dass unsere Vorfahren schwanzlos geworden sind, liegt etwa 25 Millionen Jahre zurück.
Doch Ebert warnt vor allzu einfachen Schlüssen: «Die Mutation, die dazu geführt hat, dass unsere Vorfahren schwanzlos geworden sind, liegt etwa 25 Millionen Jahre zurück.» Die damaligen Lebewesen seien sehr weit davon entfernt gewesen von dem, was man heute einen Menschen nennen würde. Das bedeute: «Der Vorteil, der durch diese Mutation zustande gekommen ist, hat sicher nichts mit Merkmalen zu tun, die den modernen Menschen als solchen ausmachen, also zum Beispiel auf zwei Beinen zu laufen, oder ein grosses Gehirn zu haben.»
Was von Vorteil gewesen sein könnte – darüber könne man nur spekulieren. Es könnte damit zu tun haben, dass vor 25 Millionen Jahren ein gemeinsamer Vorfahr von Mensch, Schimpanse und Gorilla die Lebensweise in den Bäumen aufgab und fortan auf dem Boden lief. Damit seien die wichtigsten Funktionen des Schwanzes hinfällig geworden, nämlich das Gleichgewicht und Kletterkünste zu unterstützen.
Eine zweite Möglichkeit, so Dieter Ebert: «Die Ausprägung eines Schwanzes – so wie die Ausprägung eines jeden anderen Organs – hat in der Evolution Kosten. Das heisst: Man investiert jetzt weniger in einen Körperanhang, der eigentlich keine Funktion mehr hat.»
Auch eine dritte Möglichkeit sei durchaus plausibel, erklärt der Evolutionsbiologe: dass der Schwanzverlust weder Vorteil noch Nachteil bedeutet habe; dass die Mutation ein Zufall war und einfach weitervererbt wurde.