Hans Christian Andersens Märchen von der «kleinen Meerjungfrau» erzählt die Geschichte einer Wassernixe, die sich in einen Menschenprinzen verliebt und dafür ihr Wesen verändert und sich selbst aufgibt. Wenn Kim de l’Horizon den Stoff für die Bühne neu denkt, wird wenig beim Alten bleiben.
Wird es schrill? Queer? Ein Fest der Drag Queens wie unlängst im Zürcher Schauspielhaus? Heute wird Andersens Märchen meist als Erzählung eines unterdrückten Coming-outs gelesen. Andersen schrieb es sich nach einer Liebesenttäuschung vom Herzen: Sein versteckter Geliebter Edvard Collin eröffnete ihm, dass er eine Frau heiraten werde. Wir sind im 19. Jahrhundert.
Prächtiges Panorama
Ans 19. Jahrhundert erinnert auf den ersten Blick nun auch das Bühnenbild in der Berner Vidmar-Halle: ein prächtiges gemaltes Landschaftspanorama mit Flüssen und Seen, davor ausgestopfte Waldtiere. Es ist wunderschön anzusehen, wild-romantisch, aber eben: leblos. Vielleicht müssten wir das wieder zum Leben erwecken?
Darauf zielt Kim de l’Horizons Deutung ab. Das «Meerjungrau» ist keine Frau mit -f-, schon gar keine keusche Jungfrau, sondern ein Rau. Ein Rau: Das ist in Kim de l’Horizons Mythologie eine Art Elfe oder Nymphe oder Nixe, im konkreten Fall eine Wassernixe. Da klingt das Raue an, das Ungezähmte und Unangepasste. Das Naturhafte. Dieses Rau möchte gern der Norm entsprechen und ein gewöhnlicher Mensch werden. Der Preis dafür ist, dass es seine Stimme verliert.
Statt einer Geschichte von Märchenfiguren erzählt Kim de l’Horizon nun aber eine Geschichte von gesellschaftlichen Strukturen. Der Prinz steht dabei für das White Male Privilege, cis-männlich, weiss, heterosexuell, so jemand kann ohne Furcht auf die Strasse gehen. Das will das Meerjungrau auch sein. Kim de l’Horizon fasst es unter den Begriff «Marcomann», ein Marmor-Macho – das Meerjungrau ist das Andere dazu, die Minderheit, die sich dem Anpassungsdruck ausgesetzt sieht.
Ein bisschen Hexerei
«Ich habe mich so gegeben, wie es das Gegebene gutheisst»: Von dieser traurigen Erkenntnis geht das Stück aus. In Rückblende schaut es zurück auf den Selbstverleugnungs-Prozess des kleinen Meerjungraun, und am Schluss voraus auf eine gerechtere Gesellschaft – eine Gesellschaft, in der nicht nur ein «Marcomann» sich im öffentlichen Raum furchtlos bewegen kann.
Kim de l’Horizons Text ist kunstvoll formuliert, dicht (nur manchmal etwas überreichlich) und bei aller Ernsthaftigkeit des Anliegens ausgesprochen witzig – und eine ganze Menge für die drei Schauspielenden Claudius Körber, Lucia Kotikova und Linus Schütz, die ihn mit Verve meistern. In einer Inszenierung, die sich ganz auf die Sprache konzentriert und den Text durchhörbar macht. Das ist gar nicht schrill: ein Plädoyer gegen die Anpassung an ein toxisches System. Mit ein bisschen Hexerei.