Mancher Staatsanwalt hat vor seinem Auftritt Lampenfieber, wie ein Schauspieler. Und es gibt Angeklagte, die fürchten nichts mehr, als dass sie im Kreuzverhör aus ihrer Rolle fallen. Das Publikum wiederum fiebert im Gerichtssaal oft mit, als stünde in der Figur der Angeschuldigten ein Hamlet auf der Bühne.
«Reenactements» gibt es schon seit 1532
Die Parallelen zwischen einem Strafprozess und einer Theateraufführung sind augenfällig, sagt der Basler Richter, Anwalt und Professor für Strafprozessrecht, Niklaus Oberholzer. Und er verweist auf eine frühe Rechtsform des Strafprozesses im Mittelalter, als unter der sogenannten «Constitutio Criminalis Carolina», dem deutschen Strafgesetzbuch von 1532, erstmals so etwas wie Öffentlichkeit in der «peinlichen Gerichtsbarkeit» Einzug hielt.
Der eigentliche Strafprozess, also die Wahrheitsfindung, die Befragung von Zeugen, des Angeklagten und auch der Richterspruch waren zwar geheim; aber es kam nach dem Urteil zu einer öffentlichen Aufführung des Prozesses vor Publikum, damit dieses den Richterspruch nachvollziehen konnte - also eine Art «Reenactment», ganz ähnlich, wie das heute Milo Rau, der Regisseur der «Zürcher Prozesse» am Theater Neumarkt in seinen Stücken auch tut.
Ein Drama mit festen Regeln
Seither hat sich der Strafprozess mehr und mehr zu einer Aufführung vor Publikum entwickelt, mit einem festen Ort, dem Gerichtssaal, mit klar festgelegten Rollen und, allem voran, mit festgeschriebenen Regeln.
Es treten auf das Gericht, die Anklage, die Verteidigung, in manchen Ländern auch die Geschworenen. Und wenn sie vielerorts im Gerichtssaal Roben tragen, da und dort eigenartige Perücken, wenn sie sich im Gerichtssaal an bestimmte Redensarten halten müssen, dann hat das seinen Grund, betont Niklaus Oberholzer. Sie machen mit ihrer Staffage, aber auch mit ihrem formalisierten Reden deutlich, dass sie nicht im eigenen Namen reden, nicht als Person oder als Citoyen, sondern in ihrer Funktion, in ihrer Rolle. Der Ankläger als Repräsentant der staatlichen Macht, die Verteidigung als die Figur, die im Strafprozess die Rechte des Angeklagten wahren muss.
Nicht Personen also, sondern Figuren bestreiten den Strafprozess. Bei diesem geht es denn auch durchaus um eine Aufführung, um eine Performance, bei der, betont Niklaus Oberholzer, nicht verhandelt wird, was tatsächlich geschehen ist. Verhandelt wird im Strafprozess vielmehr einzig das, was im Beweisverfahren vorgängig in die Akten aufgenommen wurde, was an Beweismaterial zugelassen wurde. Unerlaubt aufgenommene Beweise, etwa solche, die unter Umgehung von Gesetzen erhoben wurden, müssen aussen vor bleiben, selbst dann, wenn sie den Tathergang restlos erklären und auch klären könnten.
Insofern hat auch der Strafprozess einen eigenen Bühnentext, der vorgibt, was gespielt werden darf und was nicht - wobei der Ausgang eines rechtsstaatlich korrekt geführten Prozesses immer offen bleiben muss.
Ein Schauprozess, ein Prozess zum Hinschauen
Manchmal, sagt Niklaus Oberholzer, kommt es zu Form des Strafprozesses, bei dem das Theatralische noch übersteigert wird. Bei grossen, bedeutenden Strafprozessen mit weitreichenden Auswirkungen, ist dies der Fall, aber auch bei sogenannten Schauprozessen.
Ein Schauprozess kann eine Farce sein, wie etwa die Moskauer Prozesse von 1936 bis 1938, mit denen Josef Stalin seine Kritiker liquidierte, unter ihnen auch Leo Trotzki. Aber ein Prozess kann auch zum Schauprozess werden, wenn ein Ereignis so bedeutend, so gross ist, dass es auch gross inszeniert werden muss; als Beispiel nennt Niklaus Oberholzer die Nürnberger Prozesse, bei denen nach 1945 in einem exemplarischen, breit gefächerten Gerichtsverfahren die Verantwortlichen für die Gräueltaten der Nationalsozialisten vor der Weltöffentlichkeit abgeurteilt wurden. Nicht im Sinne einer Show oder einer Farce, sondern im Gegenteil - um den Gedanken der Menschenrechte und der Menschlichkeit in der Rechtskultur zu verankern.
Auch die «Zürcher Prozesse» von Milo Rau sind als ein «Schauprozess» angekündigt. Natürlich sei das Theater, sagt Niklaus Oberholzer, und zwar Theater im eigentlichen Sinn; dennoch sei es aus seiner Warte wichtig, dass zentrale Rechtsgüter wie die Pressefreiheit, der Schutz von Minderheiten und das Recht auf Nichtdiskriminierung, öffentlich verhandelt würden. Durchaus, meint er, im Sinne eines aufklärerischen Schauprozesses.