Ursina Lardi und Regisseur Milo Rau gehen durch die zerbombten Häuser im irakischen Mossul, der Stadt, wo damals der IS das Kalifat ausrief. Sie sprechen mit Personen, die Fotos der Kriegsgräuel zeigen. Lardi und Rau sehen darauf Menschen, die verzweifelt um Hilfe schreien, Leichen, im Feuer der Explosion ist ein Mensch zu sehen. Sie treffen einen Mann, dem eine Hand abgehackt wurde. Später werden sie den Mann mit ehemaligen IS-Kämpfern konfrontieren. Sie wollen sehen, was passiert.
Lardi und Rau sind auf Recherchereise für ihr Theaterstück «Die Seherin», das in Wien und Berlin gezeigt wird. Ursina Lardi spielt darin eine Kriegsfotografin, den ganzen Abend allein auf der Bühne.
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Bild 1 von 3. In «Die Seherin» spielt Ursina Lardi eine Kriegsfotografin. Auf der Suche nach Sujets des Grauens bereist sie verschiedene Krisengebiete. Bildquelle: IMAGO/Martin Müller.
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Bild 2 von 3. «Die Seherin» ist ein Ein-Frau-Stück: Den ganzen Abend spielt Ursina Lardi allein auf der Bühne. Bildquelle: IMAGO/Martin Müller.
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Bild 3 von 3. Milo Raus Inszenierung fragt: Warum ist Gewalt so verführerisch? Was bleibt, wenn Krieg und Terror die uns bekannte Welt zerstören? Was geschieht mit uns, wenn wir das Leid der Anderen betrachten und daran verdienen? Bildquelle: IMAGO/Martin Müller.
Für Ursina Lardi ist diese Phase bei der Entstehung eines Stücks sehr wichtig: «Wir sammeln Geschichten, wir sammeln Details. Aus diesen O-Tönen destillieren wir einen Text», sagt sie im Film von Regisseur Sören Senn, der sie auf der Reise begleitet.
Wie die Gewalt darstellen?
Es ist dieselbe Vorgehensweise wie bei früheren Stücken. Für «Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs» reisten sie ins Bürgerkriegsgebiet zwischen Kongo und Ruanda. Beiden geht es um Grenzerfahrung, mit Tod, mit der Darstellbarkeit von Gewalt. Wie darstellen, wenn jemandem die Hand abgehackt wird, wenn jemand vergewaltigt wird?
Lardi und Rau haben immer wieder zusammengearbeitet, nie konfliktfrei. Wiederholt standen sie vor «unüberbrückbaren Differenzen», wie Lardi sagt. Aber wenn sie in einen Flow kommen, entsteht Grosses. «Man kann mit Lardi nicht scheitern», sagt Milo Rau.
Der Weg zur gefeierten Bühnenkünstlerin war für Lardi allerdings weit. Geboren in Samedan, macht sie eine Ausbildung zur Grundschullehrerin. Sie spielt in einer Theatergruppe, wird irgendwann gefragt, ob der Beruf Schauspielerin nicht etwas für sie wäre.
Sie schafft es an die renommierte Ernst Busch-Schauspielschule in Berlin. Und ist sofort sehr eingeschüchtert: «Alle wussten so wahnsinnig viel. Ich habe weder Stücke, noch philosophische Bücher, noch irgendwas gelesen. Ich kam an mit einer irrsinnigen Wissenslücke.» Sie schliesst sie mit obsessiver Arbeit. Aber man fragt sich trotzdem, ob sie hier richtig sei.
Es muss um etwas gehen
Diese Härte zu spüren kommt ihr später zugute beim Drehen mit Michael Haneke für den Film «Das weisse Band». Lardi in der Rolle der Baronin, auf dem Set lauter berühmte Kollegen, sie kaum bekannt und furchtbar aufgeregt.
Und dann diese Szene, wo sie nur einen Satz sagen muss – und es nicht kann. Die Statisten müssen immer wieder zurück, sie drehen den ganzen Tag an der Szene. Wider Erwarten wird sie nicht rausgeschmissen.
Es ist auch meine Lebenszeit. Ich will auch etwas erleben.
Später dann aber die Schlüsselszene, wo die Baronin ihren Mann verlässt. In der Nacht davor hat sie Durchfall, kann nicht schlafen. Sie dreht die Szene – und sie ist im ersten Take perfekt. Lardi merkt: «Es kann immer plötzlich fliegen, egal aus welcher Scheisse du gerade aufstehst.»
Noch heute muss es immer um etwas gehen, wenn Lardi auf der Bühne oder vor der Kamera steht. Sonst bleibt sie lieber zuhause. «Ich bin todunglücklich, wenn ich nach einer Vorstellung das Gefühl habe, ich war mit den Gedanken woanders. Es ist auch meine Lebenszeit. Ich will auch etwas erleben.»