Publik gemacht hat den Aufruf des Theaters die «Basler Zeitung». Im Artikel äussern sich verschiedene Expertinnen und Experten kritisch. Das Vorgehen des Theaters sei ethisch und moralisch fragwürdig.
Ähnlich klingt es bei Martina Papadellis, Fachberaterin bei der Arbeitsgemeinschaft für Essstörungen in Zürich. Es sei äusserst schwierig, Anorexie-Betroffene auf die Bühne zu holen. «Sie haben eine schwere psychische Erkrankung und sind verletzlich, weil sie hoffentlich in einem Prozess stehen, ihre Krankheit loszulassen.» Im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen, mache Angst. «Das ist nicht positiv.»
Neuer Blick auf Jeanne d'Arc
Im Stück geht es um die französische Widerstandskämpferin und spätere Nationalheldin Jeanne d’Arc aus dem 15. Jahrhundert. Sie hört Stimmen und glaubt, von Gott bestimmt zu sein, um im Krieg gegen England für die Befreiung Frankreichs zu kämpfen.
Die belgische Regisseurin Lies Pauwels möchte Jeanne d’Arc in Verbindung mit dem Thema Magersucht auf die Bühne bringen und sucht dafür Laiendarstellerinnen, die an der Krankheit leiden. Dabei gehe es um mehr als nur einen Auftritt, sagt Anja Dirks, Ko-Schauspielleiterin des Theaters Basel.
Magersucht und die Machtfrage
«Es geht wirklich um eine Auseinandersetzung mit der Erfahrung und dem Krankheitsbild der Anorexie im Zusammenhang mit Jeanne d’Arc», sagt Dirks. Das habe insofern mit dem Phänomen Jeanne d’Arc zu tun, als es stark um die Frage gehe, «wie Frauen in einer Gesellschaft überhaupt Macht ausüben, wie Frauen einen Weg aus vielfach empfundener Ohnmacht finden können.»
Das Theater Basel stellt sich einen künstlerischen, ja sogar therapeutischen Umgang mit dem Thema vor. Welche Rolle die Laiendarstellerinnen und -darsteller dabei genau spielen sollen, ist allerdings noch offen.
Regisseurin Lies Pauwels schreibt in ihrem Konzept, sie habe bereits in früheren Inszenierungen mit Menschen zusammengearbeitet, die unter Anorexie leiden. Deshalb wisse sie, dass manche auch positive Erfahrungen aus einem solchen Projekt ziehen könnten.
«Kein geschützter Raum»
Expertin Martina Papadellis sieht dies jedoch kritisch. Es gebe zwar therapeutische Konzepte, die mit den Mitteln des Theaters arbeiten. «Aber das geschieht immer in einem geschützten Raum, in dem Betroffene so sein können, wie sie sind. Wenn ich mir vorstelle, ich stehe da vor einem Publikum – alles Menschen, die ich nicht kenne – und gebe mich selbst preis: Das finde ich schwierig.»
Sorgen bereitet ihr zudem, dass die Proben über eine längere Zeitspanne andauern. Das Theater betont, es nehme die Kritik ernst und sei sich der Verantwortung bewusst. Auch deshalb sei für Montag ein Treffen mit Fachpersonen und Betroffenen angesetzt, um einen Austausch zu ermöglichen. Grundsätzlich habe man aber weiterhin vor, das Stück über Jeanne d’Arc auf die Bühne zu bringen, sagt Anja Dirks.
Viele offene Fragen
Dirks hofft, dass die öffentliche Kritik das Projekt nicht verhindere. Das wäre für sie ein Fall von Cancel Culture. «Es kann nicht sein, dass man ein Thema wie Anorexie, das in der Gesellschaft ein Problem und teilweise ein Tabu ist und viel über die Welt erzählt, in der wir leben, nicht einmal diskutieren darf. Dass man nicht einmal darüber nachdenken darf, wie man so etwas in ein künstlerisches Projekt einbindet.»
Wie das Stück genau umgesetzt werden soll, ist noch offen. Ob letztlich tatsächlich Menschen mit Anorexie auf der Bühne stehen werden, ebenfalls.