Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Rückblick aufs Kinojahr Nostalgie, Netflix und ein umstrittener Freak

2019 war geprägt von Kontroversen, neuer Konkurrenz für die Kinos – und orginellem Filmschaffen. Vier Filmredaktorinnen und -redaktoren fassen das Filmjahr zusammen.

Das Filmjahr aus Sicht von Selim Petersen:

Netflix trumpfte 2019 mit grossen Produktionen auf, um gegenüber dem neuen Streaming-Konkurrenten Disney+ Stärke zu signalisieren. Freunde des Autorenfilms kamen so im Herbst auf Netflix gleich vierfach auf ihre Kosten: mit Noah Baumbachs «Marriage Story», Steven Soderberghs «The Laundromat», Martin Scorseses «The Irishman» und Fernando Meirelles’ «The Two Popes».

Video
«Gräns»
Aus Keine 3 Minuten – Die Filmkritik für Eilige vom 01.03.2019.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 42 Sekunden.

Bei den wichtigsten Festivals räumten meine Favoriten die Trophäen ab: «Parasite» gewann in Cannes die Goldene Palme, «Joker» in Venedig den Goldenen Löwen. Am meisten beeindruckt hat mich aber eine schwedische Produktion, die Ende Februar in unseren Kinos startete: der fantastische Gattungs-Hybrid «Gräns».

Unglaublich, was alles in diesem Film steckt! Regisseur Ali Abbasi vereint in «Gräns» das Beste verschiedenster Welten und Kulturen: Poesie persischer Prägung, angereichert mit magischem Realismus aus Lateinamerika. Ein Nordic Noir voller mysteriöser Gestalten, die durch die Wälder trollen. Und nicht zuletzt: Ein Traum für Surrealisten wie Buñuel, nach dem Abbasi seinen Sohn Luis benannt hat.

«Gräns» ist eine grenzüberschreitende Erfahrung. Ein Trip, der beweist, dass Genre- und Arthouse-Kino nicht zwingend Gegensätze sein müssen. Und dass ein Kinobesuch sich lohnt.

Das Filmjahr aus Sicht von Anne Meinke:

Als Kind der 90er-Jahre, geprägt von der Skate-Kultur zu dieser Zeit, ist «Mid90s» nicht nur mein Lieblingsfilm von 2019. Es war vor allem eine Zeitreise in meine Jugend. Weil es auch das Regiedebüt des Schauspielers Jonah Hill ist, waren meine Erwartung vorab ziemlich hoch. So hoch, dass «gut» nicht ausreichend gewesen wäre. «Mid90s» ist zum Glück grandios.

Mit seiner Geschichte über einen 13-jährigen Skater, der sich seinen Platz in einer Subkultur sucht, ist Jonah Hill eine feinfühlige und musikalisch mitreissende Ode an eine Zeit gelungen, die kurz vor der Allmacht des Internets stand.

Audio
Filmkrititker Georges Wyrsch über «Mid90s»
aus Kultur-Aktualität vom 18.04.2019. Bild: Filmcoopi / Tobin Yelland
abspielen. Laufzeit 6 Minuten 12 Sekunden.

Zurück in die Zukunft ins Filmjahr 2019! Weil uns das Internet etliche Möglichkeiten bietet, Filme zu konsumieren, werden heute auch etliche produziert. Darunter viele Perlen: Etwa der Goldene-Palme-Gewinner «Parasite», «Birds of Passage» über den Ursprung des kolumbianischen Drogenhandels, «Beach Bum», die schrille Netflix-Serie «The Politician» – und Ende Dezember kommt der herrliche Familien-Kulturclash «The Farewell» in die Kinos.

Obwohl sich meine Favoriten sehr voneinander unterscheiden, haben sie etwas Wichtiges gemeinsam: Eine starke Geschichte und originelle Erzählweisen. Aber vor allem sind sie keine Fortsetzungen, Remakes, Sequels oder Prequels. Nicht, dass ich alle Filme, die im Schatten ihrer erfolgreichen Vorgänger stehen, schlecht finde.

Ein Junge vor einem Wolkenhimmel.
Legende: Der Name ist Programm: «Mid90s» von Jonah Hill. Filmcoopi

Aber «Rambo: Last Blood» war mies. Sylvester Stallone wollte es mit 70 Jahren in seiner Paraderolle der 80er-Jahre nochmal krachen lassen. Und das, obwohl Teil 4 (!) schon eine Zumutung war. Manchmal ist es eben doch besser, die Party zu verlassen, wenn sie am besten ist.

Das Filmjahr aus Sicht von Dino Pozzi:

2019 wird mir als Filmjahr der kontroversen Diskussionen in Erinnerung bleiben. «Once Upon a Time in Hollywood» und «Joker» beispielsweise überzeugten an Festivals die Jury. Ihre beachtlichen Einspielergebnisse dürften sie aber auch der Flut an Kommentaren und Essays verdanken, die sie erzeugt haben.

Audio
Sorgte schon im Vorfeld für Debatten und jetzt im Kino: «Joker»
aus Kultur kompakt vom 10.10.2019. Bild: SRF / Sebastien Thibault
abspielen. Laufzeit 20 Minuten 1 Sekunde.

Bester Film? Schwierig. Noah Baumbachs Scheidungs-Drama «Marriage Story» hat mich beeindruckt: Eine zugleich tieftraurig und witzig erzählte Trennungsgeschichte, die ohne Zynismus oder Bitterkeit auskommt.

Durchgehend amüsiert habe ich mich bei Rian Johnsons «Knives Out». Ein «Whodunit», dessen Drehbuch mit Dutzenden zitierbaren Einzeilern gespickt ist, an denen der fantastische Cast sichtlichen Spass hatte.

Schmarotzer aus Leidenschaft: «Parasite» kommt gut an
Aus Tagesschau am Vorabend vom 31.07.2019.

Auf Platz eins landet bei mir aber Bong Joon-ho mit seinem sozialkritischen Meisterwerk «Parasite»: Besser kann man Anspruch und Unterhaltung nicht kombinieren.

Schlechtester Film? Das Mötley-Crüe-Biopic «The Dirt». Im Vergleich mit diesem Film klingt die Musik dieser Nieten-Accessoire-Enthusiasten wie das Weisse Album der Beatles.

Das Filmjahr aus Sicht von Enno Reins:

Wir leben in einer Welt, in dem bekannte Stoffe endlos fortgesetzt oder neuverfilmt werden. Mit das Banalste und Spiessigste, was die Filmgeschichte vorzuweisen hat, sind deutsche Musikfilme der 1950er, in denen das Herz tanzt und Lieder um die Welt gehen, deren unfassbare Fröhlichkeit einen in Depressionen verfallen lässt.

Zum Glück gibts diese Heile-Welt-Heuler nur noch selten irgendwo zu sehen. Zu selten, müssen sich allerdings leider die Macher vom Musical «Ich war noch niemals in New York» gedacht haben. Der Streifen ist eine Hommage an die Misstöne von der Leinwand, in dem eine Mutter und eine Tochter eine unfreiwillige Kreuzfahrt antreten und deutsche Edelmimen wie Moritz Bleibtreu und Katharina Thalbach den Hauch von Inhalt, den Udo-Jürgens-Schlager besitzen, wegsingen. Dabei hüpfen sie durch eine kunterbunte Kulissenwelt, die so grell ist, dass man danach nur noch schwarz-weiss Filme sehen will.

Eine vermummte Frau
Legende: Die Serie «Watchmen» ist aufregender als mancher Spielfilme, findet Enno Reins. HBO

Bester Film 2019? Schwer. «Parasite», «Gräns», «Last Black Man in San Franzisco», «Les Misérables», «Systemsprenger»: alle könnten den Titel beanspruchen. Aber da wir in einer Welt leben, in dem bekannte Stoffe endlos fortgesetzt oder neuverfilmt werden, schauen wir da doch mal hin: Gab es da was herausragendes im Kino? Leider nein.

Wieder einmal sind da Serien vorne. Aus «Watchmen», einem alten Superheldencomic und einem gleichnamigen, nicht ganz so alten Superheldenfilm, ist eine Serie entstanden, die den Rassismus in den USA aufarbeitet. Schonungslos und brutal, ohne dabei den Unterhaltungsfaktor aus den Augen zu verlieren. Kawumm!

Sendung: «Keine 3 Minuten», SRF zwei, 28.12.2019, 01:00 Uhr.

Meistgelesene Artikel