Das klingt erst einmal seltsam als Beschreibung: Er habe sich die Hauptfigur der Sophie in seinem Film vorgestellt wie einen kleinen Stier, sagt Regisseur Frédéric Mermoud. Doch das Sinnbild wird sich als passend erweisen.
Ein Wunderkind ohne Wunderkind-Story
Der Bauernhof der französischen Familie Vasseur ist kein Kleinbetrieb. Die ganze Familie ist gefordert. Auch Sophie Vasseur hilft vor Schulbeginn noch beim Füttern der Schweine oder beim Impfen. Sie nimmt einen Zug von der Zigarette des Vaters und düst dann los, in die Mathestunde am Gymnasium.
Der Lehrer kann sich auf Sophie verlassen. Sie findet die Lösung für jedes Matheproblem – mit Eleganz. Und so bescheiden, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sie dafür feiern.
«La voie royale» ist aber keine weitere Mathe-Wunderkind-Geschichte wie vor Kurzem «Le théorème de Marguerite», der seiner Hauptdarstellerin Ella Rumpf den Schweizer Filmpreis eingebracht hat.
Mitten in der französischen Gegenwart
Der Walliser Regisseur Frédéric Mermoud pendelt zwischen Regiearbeiten für Serien und eigenen Spielfilmen. In «La voie royale» erzählt er – vordergründig unspektakulär – ein dicht gewobenes, sehr zeitgemässes und überraschend packendes Sozialdrama mit romantischem Einschlag.
Er bettet seine Heldin Sophie clever und nachvollziehbar ein in die aktuelle gesellschaftliche Realität Frankreichs. Sophie brilliert nicht nur an der Schule: Auf dem Hof übernimmt sie auch die Berechnung für die Subventionsanträge.
Ihr etwas älterer Bruder Laurent hält das System der staatlichen Agrarsubventionen jedoch für hoffnungslos korrupt. Er engagiert sich entsprechend anders, bei den Protesten der «Gilets jaunes», den «Gelbwesten». Während ihr Lehrer Sophie dazu drängt, mit ihrer Begabung ein Hochschulstudium anzugehen.
Mermouds gewinnende Hauptdarstellerin Suzanne Jouannet verkörpert hier, an der Hochschule, tatsächlich den wilden kleinen Stier, den er sich für die Rolle gewünscht hat. Sophie nimmt den Kampf auf im Sozialgefüge des Bildungssystems.
Ganz so, wie es der Begrüssungsredner an ihrer Hochschule fordert: «Eure Sitznachbarn sind alle begabter als ihr. Wenn euch das nicht passt, dann müsst ihr daran arbeiten. Ändert euch!»
Ein Sozialdrama mit Gefühl
Sozialer Aufstieg, Meritokratie, neoliberales Konkurrenzdenken, Proteste, Staatsversagen: Mermoud packt die Widersprüche von Macrons Frankreich in seinen Film, ohne dabei in ein Thesen-Geraschel abzurutschen.
Der Film spielt in der französischen Gegenwart, in diesem Frankreich, dessen Präsident unter anderem gelobt hat, der elitären Kastenbildung einiger weniger Hochschulen den Riegel vorzuschieben und das Bildungssystem wieder sozial durchlässiger zu machen.
Sophie ist die attraktive, realistische und überzeugende Figur, um diesen Kampf für Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit greifbar – und vor allem fühlbar – zu machen.
«La voie royale» hat damit nicht nur einen gewinnenden kleinen Stier im Zentrum, sondern mit Hauptdarstellerin Suzanne Jouannet auch ein wild schlagendes, attraktives junges Herz.
Kinostart: 2.5.2024