«Der Körper ist politisch», sagt Festivaldirektor Giona A. Nazzaro im Hinblick auf den Hauptpreis für die brasilianische Filmemacherin Julia Murat. Damit bezieht er sich auf einen zentralen Punkt im Film «Regra 34», der den goldenen Leoparden gewonnen hat.
Die Aussage passt aber auch zu «Tengo sueños electricos», dem die Jury die drei anderen Hauptpreise zugesprochen hat: Der Film von Valentina Maurel aus Costa Rica wurde mit dem Regie- und den beiden Schauspiel-Preisen ausgezeichnet.
Es gewinnen damit zwei Filmemacherinnen aus Südamerika mit zwei Filmen, in denen Frauen die zentrale Rolle spielen. Es sind zwei spannende, provokative Auseinandersetzungen mit dem Selbstbestimmungsrecht dieser Frauen.
Frauenrechte und Sado-Maso-Sex
In «Regra 34» setzt sich eine Studentin für missbrauchte und unterdrückte Frauen ein. Gleichzeitig entdeckt sie bei sich selbst eine wachsende Vorliebe für Sado-Maso-Sex.
Was auf den ersten Blick wie ein Widerspruch wirkt, ist eine kluge filmische Provokation: Denn natürlich steht es der Studentin frei, wie sie ihren Körper für sich einsetzt – ob sie in der spielerischen Unterwerfung eine eigene Lust findet, ist genauso eine Frage der Selbstbestimmung wie eine der gesellschaftlichen und sozialen Mechanismen.
Wie ein Spaziergang auf der Autobahn
«Tengo sueños electricos», der zweite Gewinnerfilm, ist wie ein Spaziergang über die voll befahrene Autobahn: Es gibt so gut wie keine Sekunde ohne Anspannung, Angst oder Wut in dieser Geschichte. Die «elektrischen Träume» der sechzehnjährigen Eva in Costa Rica sind Adoleszenz-Albträume. Seit der Scheidung der Eltern spürt sie die Wut des Vaters in sich, das Unbeherrschbare.
Liebe und Wut, punktueller Hass, Gewaltausbrüche und der verzweifelte Versuch, das alles mit den Mitteln der Poesie irgendwie zusammenzubringen, bestimmen die Anziehung und Abstossung zwischen Eva und ihrer Umgebung und insbesondere ihrem Vater.
Nicht nur der Körper ist politisch
Beide Filme sind ästhetisch und inhaltlich mutig und überraschend, die Auszeichnungen sind schon allein deswegen gerechtfertigt. Aber natürlich ist in diesem Fall nicht nur «der Körper» politisch, sondern auch die Auswahl der Filme durch das Festival und ihre Auszeichnung durch die Jury.
Locarno hatte in diesem Jahr mit sieben Filmen von Frauen unter den 17 Filmen des Wettbewerbs einen deutlich progressiveren Frauenanteil als die meisten anderen Filmfestivals. Und diese Leoparden sind damit auch ein Zeichen dafür, dass das nicht nur dem auf lange Sicht angestrebten Verhältnis von 50:50 geschuldet ist, sondern klar auch der Qualität der Arbeit dieser Filmemacherinnen.