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Alleinsein kann Angst machen, ist aber lernbar
Aus Input vom 13.11.2022. Bild: SRF
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Anleitung zum Alleinsein Warum es sich lohnt, sich selber auszuhalten

Allein im Restaurant essen – schon beim Gedanken daran will unsere Autorin davonrennen. Wie lernt man, das Alleinsein auszuhalten? Oder sogar zu geniessen?

Allein ins Restaurant. Eingebrockt hat mir diese Aufgabe der Psychoanalytiker Rainer Gross. Der Wiener befasst sich in seinem Buch «Allein oder einsam» mit der Angst vor der Einsamkeit und der Fähigkeit des Alleinseins.

Im Alleinsein stecke ein riesiges Potenzial: «Wenn ich allein und einigermassen zufrieden, im besten Falle glücklich sein kann, bin ich in einem guten Sinne unabhängig», sagt Gross.

Rainer Gross

Rainer Gross

Psychiater und Psychoanalytiker

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Rainer Gross ist Psychiater und Psychoanalytiker in Wien. Nach über 30 Jahren in der Akutpsychiatrie arbeitet er heute in seiner Praxis. Gross ist Autor mehrerer Bücher, unter anderem von «Allein oder einsam».

Ich hingegen bin nicht so gut im Alleinsein. Habe ich an einem Freitagabend nichts vor und es meldet sich niemand oder alle sind schon verplant, fühle ich mich mausbeinallein und verlassen – obwohl ich weiss, dass dem nicht so ist. Wir alle fühlen uns dann und wann allein, das sei normal, sagt Gross.

Ein Plan für die Zeit allein

Wie viel Planung braucht es, um zufrieden allein sein zu können? Der Gedanke, allein ins Museum zu gehen und danach einen Spaziergang zu machen, klingt einfacher, als allein ins Restaurant zu gehen oder ohne Plan allein zu sein.

Aber so einfach darf ich es mir nicht machen, merke ich, wenn ich Psychoanalytiker Rainer Gross zuhöre. Zwar sei es wichtig, sich selbst Struktur zu geben und solche Tage zu takten. Schliesslich können Phasen von Alleinsein oder Einsamkeit uns allen widerfahren: «Spätestens seit der Pandemie wissen wir, dass niemand davor gefeit ist, plötzlich allein dazustehen», sagt Gross.

Strukturen und Rituale würden Angst binden. Aber: «Der Versuch, jede Minute des Alleinseins vollzustopfen, funktioniert in der Kurzstrecke gut, in der Langstrecke weniger.»

Alleinsein ist lernbar

Wenn es zum Menschsein gehört, sich dann und wann allein zu fühlen, warum sagt es dann selten bis nie jemand? «Im positiven Fall bewirkt es Mitleid und im negativen Fall ein Gefühl von: ‹Oje – da muss ich aufpassen – dem geht es nicht gut, der möchte sich jetzt an mich klammern›», sagt Psychoanalytiker Gross.

Einige seien besorgt, dass es ansteckend sein könnte. Sie würden etwa denken: «Ich möchte nichts mit dem zu tun haben, sonst komme ich auch in diese Ecke.»

Allein oder einsam, was ist der Unterschied?

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Alleinsein und sich allein fühlen sei nicht dasselbe, erklärt Einsamkeitsforscherin Noëmi Seewer von der Universität Bern. Es gebe das wertfreie Alleinsein: «Ich mache etwas oder gehe irgendwohin ohne eine andere Person.» Wie dieser Zustand erlebt werde, sei aber sehr verschieden: «Während es für die einen eine sehr schlimme Erfahrung ist, kann es für andere sehr positiv sein und sie können viel Energie daraus schöpfen», so Seewer. 

Alleinsein gelte eher als positiv. Das Gefühl der Einsamkeit hingegen sei meist negativ besetzt, schreibt der Psychoanalytiker Rainer Gross in seinem Buch «Einsam oder allein».

Interessant ist, dass das subjektiv erlebte Gefühl der Einsamkeit nicht mit der Anzahl der Sozialkontakte eines Menschen korreliere, ebenso wenig mit dem Ausmass der verfügbaren sozialen Unterstützung, schreibt Gross. Das bedeutet, dass wir uns allein fühlen können, auch wenn wir ein intaktes, liebevolles Umfeld haben. Klingt paradox, scheint aber menschlich zu sein.

Die gute Nachricht: Das Alleinsein ist lernbar. In den letzten 30 Jahren habe dies bei ihm in der Praxis ganz gut geklappt, sagt Rainer Gross. Das befriedigende Alleinsein sei ein zentrales Therapieziel. Die schlechte Nachricht: Ich muss mich nun überwinden und allein essen gehen.

Allein im Restaurant

Ich mache mich auf den Weg ins Restaurant. Es ist Mittag, das fällt mir einfacher als abends an einem Wochenende, wenn sich alle gemeinsam amüsieren und ich allein am Tisch sässe.

Wir fühlen uns exponiert, weil wir den mitleidigen oder abschätzigen Blick auf uns befürchten.
Autor: Rainer Gross Psychoanalytiker

Aber etwas hat sich bei mir in der Zwischenzeit verändert: Weil ich mich so sehr mit dem Alleinsein befasst habe, ist meine Perspektive eine andere: Mein Vormittag auf der Redaktion war stressig, der Nachmittag sieht nicht besser aus. Den Gedanken, dass ich jetzt Ruhe habe, weil ich allein essen gehe, finde ich grossartig.

Ich setze mich an einen Tisch, bestelle mir eine Suppe und einen Bagel. Ich fühle mich exponiert und hole mein Handy hervor. Über Instagram habe ich gefragt, was Leute am Alleinsein schätzen. Die Antworten bestärken mich, meinen Versuch durchzuziehen.

«Herunterfahren, Selbstfokus, Entspannung. Am besten ist es, wenn man auch das Handy abstellt», schreibt eine Followerin. Recht hat sie, denke ich und lege das Handy weg – und fühle mich wieder exponiert. Warum ist das so?

«Viele Menschen finden es sehr unangenehm, allein in einem Restaurant zu essen», erklärt Psychoanalytiker Rainer Gross. Er fühle sich dabei auch nicht wohl: «Wir fühlen uns exponiert, weil wir bestenfalls den mitleidigen, schlimmstenfalls abschätzigen Blick auf uns befürchten: ‹Mein Gott, die sitzt allein da, ist er nicht gekommen, hat sie niemanden?›»

Der coole Cowboy und die alte Jungfer

Ich muss an das Gespräch denken, das ich mit Katharina Sulzer von GrossmütterRevolution geführt habe, einem Netzwerk für die «Grossmütter-Generation». Ihr Mann ist vor 22 Jahren gestorben, die beiden Schwestern und ihre Eltern leben ebenfalls nicht mehr. Sie kennt das Alleinsein in einer ganz anderen Dimension.

Ich erinnere mich, wie auch sie von Blicken im Restaurant erzählt hat: «Ich habe schon erlebt, dass ich vom Kellner ignoriert wurde oder gefragt wurde, ob ich auf jemanden warte. Es wird erwartet, dass noch jemand kommt.»

Ältere Frau mit kurzen, grauen Haaren vor einem Büchergestell.
Legende: Katharina Sulzer ist oft alleine. Das Alleinsein habe viele Qualitäten. So sieht sie sich weniger im Spiegel der anderen. Katharina Sulzer

Rainer Gross hat mir von einem Gender Bias erzählt in Bezug aufs Alleinsein, der nicht nur, aber vor allem beim Essen auffällig sei. Warum nehmen wir Frauen anders wahr als Männer, die allein sind?

Das habe mit Bildern zu tun, die wir uns eingeprägt haben, etwa aus der (Pop-)Kultur, sagt der Psychoanalytiker. Der Cowboy, der allein in den Sonnenuntergang reitet, im Gegensatz zum Bild der sogenannten «alten Jungfer».

«Sämtliche Spiegel sind weg»

Ich schaue aus dem Fenster des Restaurants. Auf dem Platz vis-à-vis essen auch andere allein. Die meisten schauen ins Handy oder lesen Zeitung. Vielleicht halten auch sie es nicht aus, allein zu essen. Vielleicht ist es angenehmer, sich beschäftigt zu zeigen, so wie ich vorhin am Handy?

Auch ich liege manchmal weinend auf dem Sofa. Wenn man das nicht erträgt, ist es schwierig.
Autor: Katharina Sulzer

Ich denke weiter über das nach, was Katharina Sulzer erzählt hat. Heute ist sie 73 Jahre alt, Mutter einer längst erwachsenen Tochter und lebt allein.

Die ersten drei Jahre nach dem Tod ihres Mannes seien schwierig gewesen: «Ich bin seit 22 Jahren allein. Es ist keine Selbstverständlichkeit, ich musste mich daran gewöhnen. Aber ich bin immer gerne meine Wege gegangen, schon vor der Familie», hallen mir die Sätze von Katharina nach.

«Ich kann meinen Gedanken nachhängen und ihnen Raum lassen. Wichtig ist, was ich wahrnehme, ohne denken zu müssen, was der andere von mir denkt. Sämtliche Spiegel sind weg.»

Auch das Weinen ertragen

Oft sei sie gefragt worden, ob sie wieder einen Freund habe. Sie habe die Erwartung gespürt, wieder eine Beziehung einzugehen: «Dass es auch ohne geht, ist für viele Leute nicht vorstellbar. Es ist nicht der Norm entsprechend.» Alleinsein sei für sie nichts Negatives und habe viele Qualitäten: «Es ist ja eben nicht Einsamkeit, sondern ein Alleinsein.»

Viele halten das Alleinsein nicht aus oder hätten Angst vor unangenehmen Gedanken, die heraufkommen. Damit müsse man rechnen, sagt Katharina Sulzer. «Auch ich liege manchmal weinend auf dem Sofa. Wenn man das nicht erträgt, ist es schwierig. Vielleicht wollen darum manche Leute, dass immer etwas läuft. Das ist vielleicht auch eine Flucht.»

Flucht in die Beschäftigung

Endlich, das Essen kommt. Eine Randensuppe und ein Bagel. Mein leerer Magen füllt sich. Das Essen schmeckt und mein voller Kopf leert sich. Ich kann es sogar geniessen. Die Ruhe nach dem strengen Morgen. Die Blicke der anderen sind auch gerade egal – die fürchten sich wohl auch vor den Blicken der anderen.

Ich weiss, dass ich noch nicht das höchste Level erreicht habe im Alleinsein. Aber den Crashkurs habe ich bestanden und freue mich auf das nächste Mittagessen. Allein.

Radio SRF 3, Input, 13.11.2022, 20:00 Uhr

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