Er sei eigentlich viel zu schüchtern für Interviews. Jimmy Wales, der 59-jährige US-Amerikaner, betont das immer wieder in Gesprächen.
Tatsächlich wirkt er zurückhaltend, unscheinbar. Im etwas abgewetzten Sakko, dem etwas arg geblümten Hemd und der etwas altmodischen Hornbrille kommt er zum Interview nach Zürich. Graue Haare, Dreitagebart, gütiger Blick, immer ein mildes Lächeln auf dem Gesicht.
Er könnte der nette Informatiker von nebenan sein. Der freundliche Beamte aus Bern. Oder – salopp gesagt – der Samichlaus.
Ist er aber nicht. Jimmy Wales hat Wikipedia mitgegründet. Er hat uns mit dem grössten Online-Lexikon der Welt beschenkt, für alle frei zugänglich.
Ewiger Optimist
So erstaunt es wenig, dass der ewig freundliche Jimmy Wales nun ein Buch über Vertrauen geschrieben hat – und wie es sich in sieben Schritten aufbauen lässt.
Wieso? Es gäbe eine Vertrauenskrise. Menschen würden Institutionen nicht mehr glauben. Das Internet sei zur «Jauchegrube voller Wut und Hass» verkommen, schreibt Wales im Buch.
«Trust: Die 7 Regeln des Vertrauens» ist ein Plädoyer für Höflichkeit. Wales glaubt an das Gute im Menschen. Der Mensch wolle «auch dann kooperieren, wenn er dafür weder Geld, Macht, noch Status erlangen kann», schreibt der Amerikaner.
Die sieben Wikipedia-Grundsätze hören sich simpel an. Fast schon zu simpel. Doch das Modell scheint sich seit mehr als 20 Jahren zu bewähren. «Wikipedia ist eines der wenigen Erfolgsprojekte des Internets», resümiert auch SRF-Digitalredaktor Jürg Tschirren.
Frei, offen, Community-getragen
2001 hat Jimmy Wales, zusammen mit Larry Sanger, Wikipedia gegründet. Heute ist sie eine der meistbesuchten Webseiten der Welt. Es gibt über 64 Millionen Artikel in mehr als 300 Sprachen.
Wales’ Grundidee war, «eine Welt zu schaffen, in der jeder Mensch freien Zugang zum gesamten Wissen der Menschheit hat». Klingt unverhohlen idealistisch. Dazu kommt: Wikipedia soll keinen Profit machen.
Jimmy Wales hätte auch ein Jeff Bezos (Amazon), ein Elon Musk (xAi und Tesla), ein Peter Thiel (Paypal) oder ein Sam Altman (OpenAI) werden können. Sprich: ein Tech-Visionär, der zum Tech-Milliardär wurde. Ist er aber nicht. Der Guardian nennt ihn den wohl letzten «Good Guy» in der IT-Welt.
Mit seinem damaligen Mitgründer Larry Sanger ist Wales verstritten. Laut Sanger sei Wikipedia nicht mehr neutral. Er schiesst öffentlich gegen die Enzyklopädie.
Sogar bei Kritik aus den eigenen Reihen lässt sich «Good Guy» Wales nicht auf einen Schlagabtausch ein. Obwohl sie immer lauter wurde.
Zu links, zu woke, zu akademisch?
Seit ein bisschen mehr als zwei Wochen ist Grokipedia online. Musks KI-gesteuerte Antwort auf die – in seinen Augen – zensierte, voreingenommene Wikipedia.
Angefangen haben die Misstöne seitens Musk bereits im Herbst 2023. Die Seite müsste «Wokepedia» heissen, schrieb er auf X. Die Enzyklopädie habe eine linke Schlagseite.
Nicht des linken, sondern des rechten Arms wegen eskalierte der Zwist im Januar dieses Jahres. Grund: die Geste von Elon Musk an der Amtseinweihungsfeier von US-Präsident Donald Trump, die als Hitlergruss interpretiert werden kann. Wie von Wikipedianern gewohnt, gab es innert weniger Stunden einen Eintrag zur kontrovers diskutieren Armbewegung. Musk forderte, Wikipedia zu boykottieren.
Auch auf Wikipedia selbst sorgte der prompte Eintrag für Debatten. Am Schluss einigten sich die User, dass Musk «zweimal seinen rechten Arm in einem Aufwärtswinkel in Richtung der Menge ausgestreckt» hatte, dass viele Beobachterinnen diese Geste mit einem Hitlergruss verglichen und dass Musk jegliche Bedeutung hinter dieser Bewegung bestritt.
Mehr als 7000 Wörter in der Diskussionsspalte, um drei Sätze zu klären. Das ist der Prozess von Wikipedia. Denn: Während Grokipedia auf Musks eigener KI «Grok» basiert, ist es bei Wikipedia Schwarmintelligenz von Millionen von Freiwilligen.
Gemeinschaftliches Unterfangen
Jeder und jede kann mitschreiben und bearbeiten. Wikipedia gilt als eines der partizipativsten Wissensprojekte des Internets. Obwohl Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Mitwirkenden männlich sind.
Politische Präferenz? Ein No-Go. Jede Aussage muss mit einer Quelle belegt werden. Trumps Tweets? Sind keine verlässliche Quelle. Auf Kritik daran sagte Wales in einem älteren Interview: «Auch Greta Thunbergs Tweets nicht.»
Objektiv, transparent. «Eine Enzyklopädie soll keine Meinung haben», sagt Wales gegenüber SRF. «Ja, wir haben aufklärerische Werte. Wir glauben an die Vernunft, wir glauben an die Wissenschaft, wir glauben an Fakten.» Wikipedianer feiern Wales dafür, dass er sich seit all den Jahren für die Prinzipien der Plattform einsetzt.
Einst gehörte sogar Elon Musk zu den Wikipedia-Befürwortern – twitterte, dass er Wikipedia liebe.
Dann kamen Sticheleien dazu. Heute geht es um mehr als den persönlichen Zwist zwischen Musk und Wales. Es ist ein Machtkampf um Deutungshoheit im Netz. Wessen Informationen wird vertraut? Es ist kein Streit, der nur Tech-Fans etwas angeht, sondern die ganze Gesellschaft.
Dieser Dimension scheint sich Jimmy Wales bewusst zu sein. Die Kritikpunkte an Wikipedia kennt er alle. Er reagiert gelassen. Fast schon abgebrüht. «Wikipedia ist nicht perfekt, es ist ein menschengemachtes Produkt», so Wales.
Wikis graue Weste
In all den Jahren ist Wikipedia nicht frei geblieben von Kontroversen. Seien dies Skandale um Politiker oder PR-Firmen in den USA oder Frankreich. Diese polierten Wikipedia-Einträge im Auftrag von Unternehmen auf, liessen kritische Stellen verschwinden. Auch zu reden gab etwa der Outdoor-Ausrüster North Face. Er schmuggelte Schleichwerbung in Wikipedia.
Aufgedeckt wurde – höchstwahrscheinlich – alles. User wurden gesperrt, strengere Regeln eingeführt.
Grundsätzlich sei es nicht verboten, eine Agentur fürs Schreiben zu engagieren, erzählt Wales. «Es muss jedoch kenntlich gemacht werden.» Vertrauen schwindet, wenn die Menschen glauben, dass eine Institution nicht neutral ist. Davon erzählt Jimmy Wales in seinem neuen Buch.
Fauxpas des «Good Guy»
Er muss es wissen. Denn er selbst hat einst versucht, seinen eigenen Wikipedia-Eintrag zu bearbeiten. Das ist verpönt unter Wikipedianern. Er bereue es, sagte Wales später in verschiedenen Interviews. Heute ist sein Wikipedia-Eintrag einer der wenigen, der nicht bearbeitet werden kann.
Ob er selber noch Artikel schreibe? «Hier und da bearbeite ich einen», sagt er. Unter dem Pseudonym Jimbo Wales. Aber sehr selten.
Wales sitzt heute im «Board of Trustees» der gemeinnützigen Wikimedia Foundation, der Betreiberin von Wikipedia. Hauptsächlich eine symbolische Figur scheint er für die Bewegung zu sein.
Visionär, aber nicht selbstlos
Wales gibt sich bescheiden. Er erzählt von seiner Kindheit in Alabama – im tiefen Süden der USA, wo Freundlichkeit ein wichtiger Wert war. Heute lebt er mit seiner Familie in London, postet auf Instagram Fotos seiner Paella, Sorbets und Sommersalate.
Selber beschreibt er sich immer wieder in Interviews als «Nerd», der gerne programmiert – wenn auch stümperhaft. Doch dieser «Nerd» berät auch Regierungen, jettet um die Welt, hält Vorträge, ist regelmässig zu Gast am WEF in Davos. Wales ist nicht der klassische Silicon Valley-Unternehmer, aber ein naiver, altruistischer Nerd ist er auch nicht.
Der studierte Finanzwissenschaftler wurde nicht zum Milliardär mit Wikipedia, aber gegen Geld hat er nichts. «Meine Kritik, beispielsweise an Social Media, sollte nicht als Kritik am Kapitalismus verstanden werden», erklärt er. Wales pocht auf individuelle Freiheit, spricht gegen staatliche Eingriffe. Er ist ein libertärer Geist.
Und einer, der immer noch fasziniert ist von technologischen Innovationen. Wenn er über Large Language Models wie etwa ChatGPT redet, leuchten seine Augen. «Ich nutze es oft.»
SMS an Musk?
Und das, obwohl KI-Chatbots mitverantwortlich sind dafür, dass die Besuche auf der Wikipedia-Website zuletzt um acht Prozent zurückgegangen sind. Bedrohliche Konkurrenz? Wales verneint.
KI-Chatbots seien «kein echter Ersatz für Wikipedia». Nicht nur seien die allermeisten Chatbots mit Wikipedia-Artikeln trainiert, es gebe auch noch viel zu viele Fälle, wo die KI Dinge einfach erfindet, also halluziniert.
Der Rückhalt für Wikipedia in der Gesellschaft scheint noch immer gross. An dem Tag, als Elon Musk auf X zum Boykott aufrief, erhielt die Wikimedia Foundation circa fünf Millionen Dollar an Spenden.
Musk und Wales kennen sich persönlich. Einen Freund würde Wales ihn nicht nennen. Er habe seit der Lancierung von Grokipedia noch nicht mit Elon Musk geredet. «Vielleicht schreibe ich ihm in nächster Zeit mal», sagt Jimmy Wales.