Der Dalai Lama steht für gewöhnlich um 3:30 Uhr auf und meditiert mehrere Stunden. «Jeden Morgen fokussiert er sich von neuem, um tagsüber dann nur gebend, liebend und wohlwollend zu sein. Das braucht viel Disziplin», sagt Manuel Bauer.
Nicht bloss Show
Der Schweizer Fotograf begleitet den Dalai Lama seit 35 Jahren mit seiner Kamera: bei internationalen Reisen, wenn der 14. Dalai Lama politische und religiöse Würdenträger traf oder sich mit Astrophysikerinnen austauschte. Er war aber auch jenseits des Scheinwerferlichts dabei, wenn der Dalai Lama auf dem Hometrainer trainierte oder frühmorgens, wenn er im Unterhemd meditierte.
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Bild 1 von 6. Morgenmeditation. In seine Gebete schliesst der Dalai Lama stets alle fühlenden Wesen ein; so nennt er auch die Menschen in China «meine Brüder und Schwestern». Darin spiegeln sich sowohl sein Glaube an die globale Verbundenheit der Menschen als auch sein Engagement für die Förderung von Mitgefühl. (Graz, Österreich, 20. Oktober 2002). Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
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Bild 2 von 6. Auch Trainingseinheiten auf dem Hometrainer nutzt der Dalai Lama, um zu beten. (15. August 2004). Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
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Bild 3 von 6. Während einer Audienz mit Mongolen an der National Graduate University: Im Gegensatz zu ihren tibetischen Glaubensgenossen suchen die mongolischen Buddhisten den physischen Kontakt mit dem Dalai Lama. Seine Leibwächter müssen ihn festhalten, damit er nicht von der Bühne gezogen wird. (11. September 2003). Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
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Bild 4 von 6. Der 14. Dalai Lama mit dem rumänisch-US-amerikanischen Schriftsteller Elie Wiesel am 8. Dezember 2001 in Oslo. Vor dem Norwegischen Parlament hat sich die Gruppe der Friedensnobelpreisträger versammelt, um die Freilassung ihrer Kollegin Aung San Suu Kyi zu fordern, die in Myanmar inhaftiert ist. Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
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Bild 5 von 6. Zehntausende, manchmal auch hunderttausende Menschen, nehmen an einer buddhistischen Unterweisung mit dem Dalai Lama teil. (Diskit Lehrgelände in Indien, 22. Juli 2003). Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
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Bild 6 von 6. Der Dalai Lama begrüsst die Menschenmenge bei seiner Ankunft vor dem Beacon Theater in New York City. (20. September 2003). Bildquelle: Manuel Bauer/Fotostiftung Schweiz.
Der Fotograf weiss aus Erfahrung, dass das Mitgefühl des Dalai Lama und sein Streben, Gutes zu tun, nicht bloss Show ist: «Er ist wirklich das, was wir gerne hätten. Weil er jede Sekunde überlegt: ‹Sind meine Emotionen egoistisch? Oder ist das Wohl aller fühlenden Wesen die Basis meiner Handlung?›» Der Dalai Lama begegne den Menschen daher immer authentisch und auf Augenhöhe, egal ob es eine Regierungschefin oder die Küchenhilfe sei.
Der Dalai Lama, ein perfekter Mensch? «Als ich ihn das einmal gefragt habe, sagte er: Nein, auf keinen Fall. Er erzählte mir von einer Situation, die schon drei Jahre her war. Er war in Madrid in einem Hotel, da sei er einen Moment ungeduldig und wütend geworden. Er müsse also noch mehr an sich arbeiten.»
Manuel Bauer erinnert sich, dass der Dalai Lama damals starke Schmerzen hatte, aber keine Medikamente. Sein Gepäck kam am falschen Flughafen an. «Wenn sich der Dalai Lama also auf einen kurzen Moment in der Vergangenheit bezieht, wo er noch mehr lernen sollte, ist er aus meiner Sicht ziemlich perfekt und aus seiner nicht.»
Der Mann mit kurz geschorenen Haaren, markanter Brille und einem lachenden Gesicht ist über die Jahre zur Ikone des Buddhismus geworden und symbolisiert wie niemand sonst Mitgefühl und Frieden. Gleichwohl blieb er stets bescheiden: Er spricht von sich als einfacher Mönch und normaler Mensch. Was nicht ganz stimmt, wenn man sich all seine Ehrungen und Auszeichnungen anschaut, wie zum Beispiel den Friedensnobelpreis, den er 1989 für seinen gewaltlosen Kampf für ein freies Tibet bekam.
Schicksalhafte Jahre
Geboren wurde Lhamo Döndrub, wie der 14. Dalai Lama mit bürgerlichem Namen heisst, am 6. Juli 1935 als Sohn einer einfachen Bauernfamilie in Nordosten Tibets. Nur zwei Jahre später identifizierten ihn buddhistische Mönche als Wiedergeburt des 13. Dalai Lama.
Er zog mit seiner Familie in die Hauptstadt Lhasa und wurde bereits mit vier als Dalai Lama inthronisiert. Auch bekam er seinen Namen als Mönch: Tenzin Gyatso.
Im Kloster bekam er seine religiöse Ausbildung und lernte über die buddhistische Philosophie, die tibetische Kunst, Kultur und Sprache oder die traditionelle Medizin.
Was später das Leben des 14. Dalai Lama prägte, hat mit den politischen Umständen von damals zu tun: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts endete die Herrschaft der Mandschu-Kaiser. Daraufhin löste sich Tibet von China und verkündete 1913 seine Unabhängigkeit. In China kam nach einer langen Phase des Bürgerkriegs die Kommunistische Partei an die Macht: 1949 rief Mao Zedong die Volksrepublik aus und begann, nach Tibet zu greifen.
1950 marschierten etwa 40'000 Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee im osttibetischen Kham ein und wollten Tibet annektieren. Aufgrund dieser Ereignisse wurde der Dalai Lama bereits mit 16 Jahren als weltliches Oberhaupt Tibets eingesetzt. In seinem neusten Buch schreibt der Dalai Lama: «Seit diesem Zeitpunkt ist diese Verpflichtung – der Schutz Tibets, seiner Bevölkerung und Kultur – mein innerstes Anliegen».
Als Teenager und völlig unerfahren musste er sich in komplexe politische Angelegenheiten einarbeiten. Unterstützt wurde er durch seinen Regierungsstab, dem auch andere religiöse Würdenträger angehörten.
Volksaufstand und Flucht
1959 verschärfte sich die Situation in Tibet. Städte wurden durch chinesische Truppen bombardiert, sie plünderten und es kam zu Gewalt wie Zwangssterilisierungen oder Enthauptungen. Das bestätigte die Internationale Juristenkommission mit Sitz in Genf. Immer mehr Tibeterinnen und Tibeter schlossen sich der Widerstandsbewegung an.
Am 10. März 1959 kam es zum Volksaufstand. Die chinesischen Truppen schlugen den Aufstand brutal nieder, mindestens 87'000 Tibeterinnen und Tibeter kamen ums Leben. Bis heute ist das Datum ein wichtiger Gedenktag in der tibetischen Gemeinschaft.
Kurz nach dem Volksaufstand floh der Dalai Lama nach Nordindien.
Bis heute lebt er in Dharamsala im Exil. Viele Landsleute folgten ihm, so dass dort die grösste tibetische Diaspora entstanden ist.
«Es gibt kaum eine Fluchtgeschichte, ohne dass der 14. Dalai Lama erwähnt wird», erzählt die Schweiz-Tibeterin Yangzom W. Beispielsweise wegen der Schulen für tibetische Kinder in Dharamsala, die von der Familie des Dalai Lama gegründet wurden und die auch Yangzoms Mutter besuchte, bevor sie in die Schweiz kam.
Dass nach Indien und den USA gerade hier die drittgrösste tibetische Diaspora lebt, hat historische Gründe: 1960 kamen mit Hilfe des Roten Kreuzes 1000 tibetische Flüchtlinge in die Schweiz. Vor diesem Hintergrund ist auch das Tibet-Institut Rikon entstanden.
Der Dalai Lama wünschte sich einen religiösen und kulturellen Treffpunkt für die Exil-Tibeter. «Er ist eine Schlüsselfigur für unsere Geschichte in der Diaspora», fasst die 33-jährige Yangzom W. zusammen.
Für die junge Frau, die im Kulturbereich arbeitet, hat der 14. Dalai Lama eine spirituelle Bedeutung, auch wenn sie selbst eher säkular sei: «Seine grundsätzlich menschliche Ethik und die buddhistisch-philosophischen Lehren inspirieren mich.»
Mehr als Kalendersprüche
Der langjährige Dalai Lama-Übersetzer und ehemaliger Mönch Thupten Jinpa spricht auch von säkularer Spiritualität, die der 14. Dalai Lama geprägt und im Westen bekannt gemacht hat. «Das ist mehr als nette Kalendersprüche, die man sich an den Kühlschrank heften kann», sagt er lachend.
«Es geht dem Dalai Lama darum, dass wir eine bewusste Absicht für ein sinnvolles Leben haben.» So könnten Kalendersprüche am Kühlschrank zwar helfen, sich daran zu erinnern. Es komme aber darauf an, wie diese Absicht im Leben praktiziert und umgesetzt werde.
Meditation und Wissenschaft
Der Dalai Lama betont immer wieder die allgemein menschlichen Werte oder zeigt auf, inwiefern Meditation und Mitgefühl für alle nützlich sein können. Dies macht ihn und die buddhistische Philosophie hierzulande bei vielen beliebt. Hinzu kommt, dass sich das spirituelle Oberhaupt seit Jahren im Dialog mit anderen Religionen ebenso wie in der westlichen Wissenschaft engagiert.
Der Dalai Lama hat beispielsweise dazu angeregt, zu erforschen, wie sich Meditation auf unsere Hirnstrukturen auswirkt. «Dass meditieren hilft, damit neue Neuronen wachsen, hat Europa oder die USA empfänglich für solche Techniken gemacht», ist der Übersetzer Thupten Jinpa überzeugt.
Politisch wenig erreicht
In den letzten Jahren ist es ruhiger geworden um den 14. Dalai Lama. Während er mit seiner Ethik und grobgestrickten Ratschlägen zum Glücklichsein viele Menschen inspirieren konnte, blieben die grossen politischen Erfolge aus.
Sein «Mittlerer Weg», der mit diplomatischen Verhandlungen und gewaltfrei eine echte Autonomie Tibets innerhalb der Volksrepublik China erreichen will, hat sich nicht durchgesetzt. Die Schweiz beispielsweise anerkennt Tibet nach wie vor nicht, sie will die Wirtschaftsmacht China nicht verärgern. So empfängt der Bundesrat den Dalai Lama nur informell, das letzte Mal 2005.
Mehr und mehr zog er sich aus der Politik zurück. Seine politische Macht gab er 2011 vollständig an eine gewählte tibetische Exil-Führung ab. Damit reformierte er die Institution des Dalai Lama, die seit dem 17. Jahrhundert nicht nur für religiöse, sondern auch für politischen Belangen zuständig war.
Ein Symbol für Tibet
Als religiöses Oberhaupt der Tibeterinnen und Tibeter hat der Dalai Lama aber nach wie vor viel Einfluss. Das zeigt sich etwa daran, dass die chinesische Regierung ihn immer wieder als Separatisten bezeichnet und zu diskreditieren versucht. In Tibet ist es zum Beispiel verboten, ein Bild des 14. Dalai Lama aufzustellen.
«Die chinesische Regierung versteht, dass er das Symbol für Tibet ist», erklärt Thupten Jinpa, «aber die Tibeterinnen und Tibeter haben ihn in ihren Herzen, dieses Bild kann sie nicht zerstören».
Peking versucht, die Nachfolge-Frage des Dalai Lama zu beeinflussen und für sich zu entscheiden. Jüngst etwa widersprach die Kommunistische Partei der Ansage des 14. Dalai Lama, seine Reinkarnation werde eines Tages mit den alten buddhistischen Ritualen ermittelt. Die chinesische Regierung will nach ihren Vorgaben einen 15. Dalai Lama bestimmen. Dann wird es auch darauf ankommen, wie die Weltgemeinschaft reagiert.