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Fettfeindlichkeit ade! «Mein Körper muss niemandem gefallen»

Die Philosophin Kate Manne zeigt, wie tief Vorurteile gegenüber dicken Menschen in unserer Gesellschaft verankert sind. Ihr neues Buch ist ein persönlicher Aufruf zum Wandel.

«Fette Schlampe» sprühten Kate Mannes Mitschüler auf ihren Spind. Wochenlang stand die Beschimpfung da, bevor der Hausmeister sie endlich entfernte.

Ihre Schuljahre? Grausam. Bei der Abschlussfeier ihrer australischen Highschool wurde sie zur Person gewählt, die am ehesten für Sex bezahlen müsse.

Person bei einer Preisverleihung mit Medaille.
Legende: Von Kate Manne gibt es nur eine Handvoll, sorgfältig von ihr kuratierte Fotos im Netz. «Ich konnte es nicht ertragen, fett genannt zu werden.» Getty Images/Dimitrios Kambouris

«Ich wurde gnadenlos gemobbt, weil ich dick war. Ich habe diese Identität voll und ganz angenommen», erzählt die Philosophin Kate Manne in einem Podcast. Sie war besessen von ihrem Gewicht, probierte jede Diät aus. Dachte selbst, sie sei weniger wert – wegen ihrer Kilos.

Sich nicht mehr klein machen

Soeben ist das neue Buch der 42-Jährigen auf Deutsch erschienen: «Grösse zeigen. Wie wir Fettfeindlichkeit bekämpfen können». Es ist ihr persönlichstes bisher. Früher schrieb die Philosophieprofessorin über Misogynie. Ihr Erstling «Down Girl» gehört zu den Standardwerken feministischer Theorie.

Jetzt geht es um die systematische Abwertung übergewichtiger Menschen. Manne nennt es Fettphobie oder Fettfeindlichkeit. Sie verknüpft persönliche Anekdoten mit zig Studien, die sie alle in ihrem Buch anführt. Sie will zeigen: Es handelt sich um mehr als ein individuelles Problem.

«Ja, ich war fett»

Manch einem mag das Wort «fett» zu dick aufgetragen erscheinen. Manne verneint. «Ich beziehe mich auf die Sprache von Fettaktivisten.» «Fett» und «dick» seien reine Beschreibungen, ähnlich wie «klein» oder «gross». Dahinter stecke keine Wertung.

Ursprünge der «Fat Acceptance»-Bewegung

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Der Ursprung der sogenannten «Fat Acceptance»-Bewegung geht zurück in die 1960er- und 1970er-Jahre in den USA. Aktivistinnen und Aktivisten wehrten sich gegen «Fatism», also gegen die Diskriminierung dicker Menschen. Organisationen wie die National Association to Advance Fat Acceptance (NAAFA) spielten eine zentrale Rolle.

Seit den 2010er-Jahren ist das Prinzip der «Body Positivity» omnipräsent. Erste Impulse kamen aus feministischen und Anti-Diät-Diskursen. Das Ziel war, Selbstliebe und Akzeptanz aller Körperformen zu fördern.
Die Bewegung wurde durch Social Media populär und auch von Marken aufgegriffen.

Als Gegenbewegung zur Positivity entstand die Idee, den Körper nicht lieben zu müssen. Stattdessen liegt der Fokus auf seiner Funktion und einem neutralen Umgang, die Bezeichnung «Body Neutrality» etablierte sich hier.

Sich dick oder unwohl im eigenen Körper zu fühlen, sei das eine. Fett sei eine Person aber erst, wenn sie in Geschäften keine passenden Kleider findet. Wenn die Sitze im Flugzeug oder Theatersaal zu eng sind. Wenn die Diskriminierung also spürbar wird.

Keinen Platz in der Gesellschaft

Kate Manne weiss, was es heisst, nicht reinzupassen. Als sie in Harvard arbeitete, achtete sie penibel genau darauf, immer Stunden vor Vorlesungsbeginn im Saal zu sein. «Um mir einen geräumigen Sitz zu sichern.» Sie habe immer noch Albträume, irgendwo nicht hineinzupassen.

«Ich kann Ihnen genau angeben, wie viel ich an meinem Hochzeitstag wog, am Tag, als ich meine Doktorarbeit mündlich verteidigte, und am Tag, als meine Tochter geboren wurde», schreibt Manne im Buch.

Jetzt habe sie genug davon. Sie habe sich geschworen, sich «nicht mehr kleiner machen zu wollen». Mit 16 war sie letztmals Schwimmen, traute sich dann nicht mehr ins Schwimmbad. Sie sagte die Pressetour zu ihrem ersten Buch ab. Aus Sorge, ihr würde die Autorität als Philosophieprofessorin abgesprochen werden – ihres dicken Körpers wegen.

Hartnäckige Vorurteile

Für Kate Manne ist nun aber klar: Nicht ihr Körper ist das Problem. Oder der Körper einer anderen dicken Person. Sondern, dass die Gesellschaft sich nicht lösen könne von der Fettfeindlichkeit.

Eine Gesellschaft, die besessen vom eigenen Körper ist – und vor allem davon, Körper anderer zu beurteilen und zu kommentieren.

Fächer der Diskriminierung

Schonungslos listet Kate Manne die etlichen Beispiele auf, bei denen sich diese Fettphobie zeigt. Dicke Menschen bekommen weniger Jobs, schlechtere Löhne, schlechtere Noten. Nehmen Kinder zu, werden sie von Lehrpersonen als weniger leistungsfähig eingeschätzt – obwohl Tests keine schlechteren Ergebnisse zeigen, wie Forschende in den USA belegten.

Im Spital fehlen die Hemden, die Untersuchungstische und Nadeln, die auch für sehr dicke Körper geeignet sind. Eine Studie, auf die sie sich beruft, zeigt, dass dicke Frauen signifikant weniger häufig auf Krebs untersucht werden.

Besonders brisant ist eine Studie aus den USA, wo in einem fiktiven Gerichtsfall «fettleibig» beschriebene Personen härtere Strafen erhielten – besonders dicke Frauen wurden häufiger als schuldig eingestuft.

Ohne Fleiss kein Preis

Ganz die Philosophin, bringt Manne die Moral ins Spiel: Eine «gute Dicke» sehe das eigene Dicksein als Versagen, so der gesellschaftliche Tenor. Der hartnäckige Mythos: Du bist schuld, wenn du dick bist. Es fehle das moralische Rückgrat, die Willenskraft.

«Dicke Körper werden so dargestellt, als seien sie dünnen unterlegen», schreibt Manne. Aus gesundheitlicher, moralischer, intellektueller und sexueller Sicht. Es wird vom Äusseren aufs Innere geschlossen.

Manne argumentiert hingegen, dass es keine moralische Verpflichtung gebe, abzunehmen. Sie zitiert Studien, die besagen, dass 70 Prozent der Körpermasse auf Gene zurückzuführen sei. Dicke Menschen seien oft in einem hormonellen Teufelskreis gefangen. «Man kann dicke Menschen nicht tadeln, schier Unmögliches nicht zu schaffen.»

Es ist ja nicht gesund!

Sehr oft komme die Replik: Es sei aber auch ungesund, dick zu sein. Das ist wohl Mannes streitbarstes Argument. Sie sehe zwar, dass Übergewicht und gesundheitliche Probleme zusammenhängen können.

Frau in hautfarbener Unterwäsche vor beigem Hintergrund.
Legende: Fettphobie werde als weniger wichtige Form der Diskriminierung abgetan, so Kate Manne. Obwohl Vorurteile gegenüber dicken Menschen zunehmen, während die Stigmatisierung wegen Hautfarbe, Alter oder Behinderung nachlässt. Das zeigen Studien, die Manne in ihrem Buch zitiert. Getty / Cultura Creative

Aber: Die öffentliche Debatte sei zu einseitig. Das Thema sei komplex, Forschungsergebnisse nicht immer so eindeutig. Vor allem betont sie, dass Diäten meist nicht schlanker machen und schädlich sind.

Die Debatte um den BMI

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Das Hauptwerkzeug, um zu messen, ob jemand übergewichtig oder adipös ist, ist der Body-Mass-Index (BMI). Und das seit Jahrzehnten.

Anfang dieses Jahres kritisierte eine internationale Kommission von Fachleuten den BMI. Der BMI alleine reiche nicht, sei nicht aussagekräftig genug. Sie fordert, den BMI nur als ersten Schritt heranzuziehen, dann aber auch noch die Familienhistorie, Fettanteile bei anderen Organen und Weiteres zu prüfen.

In der Schweiz sind mehr als 40 Prozent aller Menschen übergewichtig, 12 Prozent stark übergewichtig, also adipös. In den USA, wo Kate Manne lebt, gelten 40 Prozent der Bevölkerung als adipös.

Her mit der Spritze!

Kate Mannes Worte haben heute einen fahlen Beigeschmack. Seit eineinhalb Jahren gibt es einen Ansturm auf Ozempic und andere Schlankmacher-Spritzen. Überall schmelzen die Kilos: Adele, Elon Musk, Kim Kardashian, Lizzo. Und wie hat die Arbeitskollegin plötzlich so viel abgenommen? Es scheint, als käme der Schlankheitsterror der 1990er- und 2000er-Jahre zurück. Nicht nur auf Tiktok und Instagram.  

Ozempic entlarve, wie ambivalent der Ruf nach körperlicher Vielfalt, sogenannter «Body Positivity», war, so Manne in einem Interview. Noch immer wollen viele Menschen vor allem eins: ja nicht dick sein.

Ihr Gegenmittel? Manne fordert sogenannte «Body Reflexivity». Das heisst so viel wie: Unser Körper ist nur für uns da, man muss niemandem gefallen. «Ein Körper ist weder gut noch schlecht noch neutral, sondern etwas, das für die Person, die ihn bewohnt, besser oder schlechter geeignet sein kann.»

Nur leben wir alle nicht in einem Vakuum – sondern in einer Welt, in der Schönheitsideale kaum wegzudenken sind und sich hartnäckig halten. Der Körper steht im Zentrum, scheint Projektionsfläche der eigenen Persönlichkeit, heute mehr als früher. Fraglich, ob sich so ein Systemwechsel je umsetzen lässt.

Buchhinweis

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Kate Manne: «Grösse zeigen. Wie wir Fettfeindlichkeit bekämpfen können». Suhrkamp, 2025.

Radio SRF 2 Kultur, 100 Sekunden Wissen, 2.12.2025, 9 Uhr; sten

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