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Freiwilligenarbeit in Israel «In diesem Moment beschloss ich, dass etwas getan werden muss»

Kultur war seine Welt – doch der Kriegsausbruch in Israel hat das Leben des Journalisten Sahar Shalev auf den Kopf gestellt. Ein Erfahrungsbericht.

Wir standen früh auf. Um 7 Uhr morgens erreichen wir den Kibbuz und schlossen uns der Gruppe an, die im Tomatengewächshaus arbeitete. Der Landwirt erklärte uns die Arbeit und gab uns vor Beginn noch ein paar Sicherheitshinweise: Im Falle eines Raketenalarms könne man nicht zum Schutzraum rennen, dieser sei zu weit vom Gewächshaus entfernt – man hätte nur 15 Sekunden Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Man müsse sich einfach auf den Boden legen und den Kopf mit den blossen Händen bedecken.

Die Landwirtschaft war bis dahin nie Teil meiner Welt gewesen. Als Kulturjournalist gehörte ich immer zu den Stadtmenschen, die darob etwas die Nase rümpften und Konzerte, Filme oder Ausstellungen Ausflügen in die freie Natur vorzogen. Kultur war mir näher, als mit Erde zu arbeiten und sich die Hände schmutzig zu machen.

Mit den Ereignissen vom 7. Oktober änderte sich das.

Sahar Shalev

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Sahar Shalev ist ein freier Kulturjournalist. Er schrieb unter anderem für die Publikationen Haaretz, Yedioth Aharonot and Globes. Seit 18 Jahren wohnt er in Tel Aviv.

An diesem Samstag war ich mit meinem Partner im Urlaub in Deutschland. Wir übernachteten in einem abgelegenen Hotel und wachten zu den Push-Nachrichten aus Israel auf: Nachrichten von Terror und Massenmord. Es waren Meldungen über eine Trance-Party in der Nähe der Grenze zu Gaza, an der Feiernde angegriffen wurden. Von Menschen aus Dutzenden Kibbuzim im Süden, die nach Hilfe schrien.

Aber vor allem herrschten Verwirrung und Schock darüber, dass der Staat – genau wie wir es im letzten Jahr befürchtet hatten – scheiterte und seiner grundlegendsten Pflicht nicht nachkam: seine Bürger zu schützen.

Zwei Tage später kehrte ich mit einem teuren El-Al-Flug nach Israel zurück: der einzige, nachdem alle ausländischen Fluggesellschaften ihre Flüge nach Israel gestrichen hatten.

Rückkehr in eine leere Stadt

Ich kam am späten Abend in Tel Aviv an, wo es aussergewöhnlich still war: keine Menschen auf den Strassen. Restaurants und Bars geschlossen. Es war, als schwebte eine schwarze Wolke über den Hochhäusern. Ich empfand ein Gefühl der Erstickung und Schwere.

Ein Mann mittleren Alters mit Brille lächelt.
Legende: Perspektiven ändern: Die Kultur müsse sich in diesen Tagen neu positionieren, ist Journalist Sahar Shalev überzeugt. Sahar Shalev

Die Stadt spiegelte meine persönliche Stimmung wider. Gefühle, die mich an das erinnerten, was der Autor David Grossman über die Realität in Israel sagte: Dass das israelische, öffentliche und nationale Alltagsleben gewaltsam in das private Alltagsleben eindringen würde. Es stellte sich heraus, dass es unmöglich ist, dem zu entkommen.

Verzweiflung über den Staat

Das letzte Jahr in Israel war eines der schwierigsten, das ich erlebt habe: eine rechtsnationale Regierung, die nicht nur den Bau von Siedlungen fördert und über die Gewalt der Siedler hinwegsieht, sondern auch eine Justizreform vorantreibt, die Israel in ein Ungarn oder Polen verwandeln könnten. Eine Regierung, die die rechte Herrschaft im Obersten Gerichtshof stärken und selbstherrlich Gesetze ohne mögliche Einschränkungen erlassen will.

Hunderttausende gingen wie ich auf die Strasse, um gegen das Regime zu protestieren. Bei diesen Demonstrationen spürte ich grosse Verzweiflung über den Staat – aber auch grosse Hoffnung bei den Menschen, die den Bürgerkampf anführten und sich für Demokratie und Werte wie Gleichheit und Gerechtigkeit einsetzten.

Aber all dies endete am 7. Oktober.

Es muss etwas geschehen

Als ich nach meiner Rückreise aus Berlin am 10. Oktober aufwachte, wurde mir klar: Meine Rückkehr aus Europa war auch eine Rückkehr in der Zeit. Wir befanden uns in einer Art Zeitmaschine, die uns in andere Zeiten der israelischen und jüdischen Geschichte warf – in eine Mischung aus Holocaust, Jom-Kippur-Krieg, Unabhängigkeitskrieg und den Pogromen in Europa.

In diesem Moment beschloss ich, dass etwas getan werden musste. Nicht etwas Grosses, Heroisches – aber doch etwas.

Gelebte Solidarität

Schon zwei Tage nach Kriegsausbruch wurden lokale, zivile Freiwilligen-Organisationen ins Leben gerufen: Kleidung und Ausrüstung für einberufene Soldaten wurden gesammelt, Mahlzeiten wurden gekocht und an die Soldaten versendet. Der psychologische Dienst benötigte Unterstützung. Zivilisten, die aus den Kriegsgebieten evakuiert worden waren, mussten betreut werden.

Den dritten Kriegstag verbrachte ich in einem beliebten Restaurant im Zentrum von Tel Aviv. Dieses hatte sich innerhalb eines Tages in eine Lebensmittelfabrik verwandelt: Hier wurden tausende Mahlzeiten gekocht, die dann an Armeebataillone im ganzen Lande verschickt wurden – ein riesiges Freiwilligenzentrum. Menschenmassen in der Küche, Organisatoren an den Hotlines und dutzende Menschen, die mit dem Verpacken und Versenden der Pakete beschäftigt sind. Inmitten des Tumults wurden immer wieder Raketen aus Gaza abgeschossen, die uns in die Schutzräume zwangen.

All diese Freiwilligenarbeit, zusammen mit den Nachrichten vom Krieg, führte uns vor Augen: Der Staat war gescheitert – und die Bürger sind es, die die Situation retten. Weil es einfach niemand anderes tut.

Landwirtschaft ohne Erntehelfer

Auch die Landwirtschaft brauchte Arbeitskräfte: Viele Arbeiter in dieser Branche sind thailändische Fremdarbeiter, die in den letzten Jahrzehnten nach Israel gezogen waren – und nun wegen des Kriegsausbruchs in ihre Heimat zurückkehrten.

Sehr schnell entstanden Organisationen, die Freiwillige in die Landwirtschaft vermittelten. Insbesondere der Gazagürtel – das Gebiet, das vom Angriff am 7. Oktober getroffen wurde – benötigte dringend Arbeitskräfte.

Grosses Feld mit zahlreichen grünen Kohlpflanzen.
Legende: Das Gemüse ist erntereif, aber die Arbeiter fehlen: Blumenkohlfeld im Gazagürtel. Sahar Shalev

Einige meiner Freunde und ich beschlossen, freiwillig auf den Feldern arbeiten zu gehen. Und so standen wir eines Morgens um 7 Uhr im Kibbuz «Zikim», ein paar Kilometer von der Grenze zu Gaza entfernt. Bereit, um Tomaten zu ernten.

Tomaten am Boden, Raketen in der Luft

Die Arbeit im Gewächshaus war komplex und schwer. Es wirkte wie eine surreale Szene aus «Apocalypse Now», dem Film von Francis Ford Coppola über den Vietnamkrieg.

Wir pflückten, schnitten und versuchten, die Tomatensträucher zu retten, die sich durch die Schwere der Früchte zum Boden neigten – denn wegen des Kriegsausbruchs waren sie nicht geerntet worden. Über uns pfiffen Raketen, und aus Gaza hörten wir das Dröhnen von Angriffen der israelischen Luftwaffe.

Ein Mann mit Sonnenbrille steht lächelnd neben einem hohen Stapel Plastikkisten.
Legende: Tomaten waren erst der Anfang: Sahar Shalev hat sich nach seinem ersten Einsatz im Gewächshaus für weitere freiwillige Feldarbeiten gemeldet. Sahar Shalev

Kultur muss neu definiert werden

Als Journalist habe ich Kultur der freien Natur stets vorgezogen. Doch heute bin ich, gerade als Kulturmensch, enttäuscht von der Menschheit und ihren kulturellen Arbeiten.

Diese Tage steht der Begriff «Kultur» leer: Kann Kultur Trost spenden? Einen Fluchtweg vor den Schrecken da draussen bieten? Die Situation widerspiegeln? Ich habe das Gefühl, dass die Kultur – genau wie ich – angesichts des Schmerzes und der Katastrophe hilflos dasteht. Sie muss sich in diesen Tagen neu positionieren, muss versuchen, sich in der Dunkelheit der Kriegstage zurechtzufinden.

Schon der deutsche Philosoph Adorno sagte, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Nun stellt sich die Frage, ob Kultur – ja, ob der Gedanke an Kultur – angesichts des Kriegs überhaupt relevant ist.

Ein zaghaftes Erwachen

Während ich noch debattiere, hat die Realität schon ihre eigenen Antworten: Zwischen den Nachrichtensendungen tauchen nach und nach satirische Formate auf. Dutzende Kulturbetriebe haben begonnen, ihre Produktionen, grösstenteils kostenlos, wieder anzubieten. Restaurants haben ihre Wiedereröffnung angekündigt, und die Leute treffen sich wieder mitten am Tag auf einen Kaffee.

Auch wenn es Barbarei ist: Es scheint, dass sich die Menschen – vor allem an Orten der Traurigkeit und Kämpfe wie Israel – gewohnt sind, sich an jede Situation anzupassen. Auch wenn die Realität schwierig ist, schleicht sich immer wieder der Glaube ein, dass am Ende alles in Ordnung kommt.

Weit weg von der Politik, mit einer neuen kulturellen Schaffenskraft und mit dem Wunsch, aufzustehen und etwas zu tun, rief ich den Landwirt in einer der Siedlungen bei Gaza an und meldete mich für einen weiteren Arbeitstag auf dem Feld. Da erinnerte ich mich an die berühmten Worte des Philosophen Voltaire in seinem Buch «Candide»: «Gehen wir an die Arbeit, il faut cultiver notre jardin.» Unser Garten muss kultiviert werden.

Aus dem Hebräischen übersetzt von Nancy Guggenheim.

SRF 1, Tagesschau, 07.12.2023, 19:30 Uhr

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