Seit den Überraschungsangriffen der Hamas auf Israels Territorium steht die israelische Öffentlichkeit unter Schock. Vielerorts sind die Strassen fast menschenleer. Neben Angst und Trauer macht sich Fassungslosigkeit breit. SRF-Sonderkorrespondentin Susanne Brunner berichtet über die Lage vor Ort.
SRF News : Susanne Brunner, Sie sind am Vormittag in Tel Aviv gelandet und dann nach Jerusalem weitergereist. Welche Eindrücke hatten Sie?
Susanne Brunner: Einige Fluggesellschaften flogen gestern und heute gar nicht nach Israel. In meinem Flugzeug waren fast ausschliesslich Israeli, die fassungslos in ihre Handys starrten. Und ein Pilot, der die Passagiere beruhigte: Er sei ständig in Kontakt mit den Sicherheitsbehörden und würde nicht fliegen, bestünde auch nur der Hauch eines Zweifels an einer sicheren Landung.
Am Flughafen Tel Aviv dann Schilder mit Pfeilen, die in Richtung Luftschutzkeller zeigten, eine Passbeamtin, die mich als Journalistin mahnte, auf mich aufzupassen. Leere Züge und Bahnhöfe, Zugausfälle. Und jetzt bin ich in Jerusalem: Nur wenige Menschen sind auf der Strasse, wo sonst Menschenmengen sind – dafür Dutzende Polizistinnen und Soldaten auf Pferden, Motorrädern, in gepanzerten Fahrzeugen. Die palästinensische Bevölkerung streikt auch noch wegen der Opfer im Westjordanland und in Gaza – die meisten Läden sind geschlossen.
Die Stadt ist praktisch menschenleer. Heisst das, die Menschen haben Angst, auf die Strasse zu gehen?
Also einerseits sitzen viele daheim vor dem Fernseher und dem Handy und verfolgen fassungslos, wie die Zahl der Toten in Israel stündlich steigt. Noch immer richten Terroristen im Süden des Landes Menschen regelrecht hin, liefern sich mit der Armee Gefechte. Aber nicht nur das macht den Menschen Angst – auch, dass plötzlich in den Strassen Jerusalems geschossen werden könnte. Die Menschen, jüdische und palästinensische Bewohner Jerusalems, haben Angst voreinander. Die Bilder von 2021, als Araber und Juden in gemischten Städten aufeinander losgingen, sind nicht vergessen. Niemand will jetzt auffallen, durch seine Präsenz die anderen provozieren. Die Lage und die Gemütslage der Menschen sind angespannt.
Ich habe in Jerusalem mit Israeli gesprochen, die trotz allem draussen waren, und alle sprachen von ihrem unfassbaren Schock.
Was sagen die Leute dazu, dass Armee und Geheimdienste völlig überrascht wurden von den Angriffen?
Ich habe in Jerusalem mit Israeli gesprochen, die trotz allem draussen waren, und alle sprachen von ihrem unfassbaren Schock. Israels Geheimdienste sind in Sachen Überwachungstechnik kaum zu überbieten. Israel exportiert diese Technologie in die halbe Welt. Und da soll die Hamas unbemerkt monatelang einen so verheerenden und andauernden Angriff geplant haben?
Ein Buchhändler, der in seinem Laden Büroarbeit erledigte, drückte es so aus: «Da muss Gottes Hand im Spiel gewesen sein – anders kann man sich das ja gar nicht erklären, weil das macht einfach keinen Sinn.» Das Gefühl der Sicherheit ist über Nacht erschüttert worden. Auch wenn dieses Sicherheitsgefühl, das sonst da ist, ein Stück weit schon auch Verdrängung ist: In Gaza und im Westjordanland brodelt es schon lange, und es liegt auf der Hand, dass man ein Volk nicht hinter Mauern wegsperren und meinen kann, damit sei das Problem aus der Welt geschafft. Das haben mir heute einige palästinensische Bewohner Jerusalems gesagt.
Ist die Lage im Süden des Landes denn einigermassen unter Kontrolle?
Nein, das kann man noch nicht sagen. Über 600 Getötete in Israel, und es werden stetig mehr – abgeriegelte Strassen, Panzer, Gefechte, das ist noch nicht vorbei und schon gar nicht vollkommen unter Kontrolle.
Das israelische Sicherheitskabinett hat den Kriegszustand ausgerufen. Das erlaubt weitreichende militärische Schritte. Was ist zu erwarten?
Neben weniger Zurückhaltung bei Angriffen auf Orte, wo Terroristen vermutet werden, heisst das auch: Die Armee kann Demonstrationen verbieten, sie kann Leute zwingen, Soldaten ihr Auto zu leihen, wenn sie ein solches brauchen.
Es gibt kaum etwas, was die Armee nicht machen darf im Namen des Antiterrorkrieges.
Die Armee kann die Bewegungsfreiheit einschränken. Es gibt kaum etwas, was die Armee nicht machen darf im Namen des Antiterrorkrieges – und Premier Netanjahu hat gestern deutlich gesagt: Wir sind im Krieg.
Das Gespräch führte Iwan Lieberherr.