Zum Inhalt springen

Header

Zur Übersicht von Play SRF Audio-Übersicht

Geraubte Kinder Kanadas Kanadas dunkles Erbe – und der Mann, der die Sterne zurückbrachte

Wilfred Buck hatte alles verloren: die Eltern, die Geschwister und seine Heimat. Doch der Angehörige der Indigenen Cree First Nation in Kanada hat sich zurück ins Leben gekämpft, studierte Pädagogik und wurde ein anerkannter Experte für Indigene Astronomie.

The Pas, Manitoba, Kanada, Ende der 1960er-Jahre. Ein Junge ist auf dem Weg nach Hause. Als er dort ankommt, sind alle weg, das Haus ist leer. «Meine Geschwister waren Opfer des ‹Sixties Scoop› geworden», erzählt Wilfred Buck im gleichnamigen Dokumentarfilm von Lisa Jackson.

Als «Sixties Scoop» werden jene Gesetze bezeichnet, die es dem kanadischen Staat erlaubten, Indigene Kinder ihren Eltern zu entreissen. Die geraubten Kinder wurden weissen mittelständischen Eltern anvertraut und in sogenannte «Residential Schools» geschickt, wo sie deren Kultur und Sprache lernten.

«Residential Schools» in Kanada

Box aufklappen Box zuklappen

Diese Internate wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt und meist von der römisch-katholischen oder der anglikanischen Kirche betrieben. Das letzte wurde erst 1997 geschlossen.

Der kanadische Staat gibt heute zu, unrecht gehandelt zu haben. Aus der «Truth and Reconciliation Commission Canada» (2015) geht folgendes Eingeständnis hervor:

«Die Schulen sollten die Bindung zwischen Indigenen Kindern und ihren Eltern kappen – und taten das nur allzu gründlich. Familienbande wurden dauerhaft gebrochen. Kinder, die strenger Disziplin ausgesetzt waren, verloren nicht nur den Kontakt zu ihren Eltern, sondern hatten später auch Mühe, selbst liebevolle Eltern zu werden.»

«Diese Massnahme wurde durchgeführt, um die Sprache, Kultur und Sensibilität der Indigenen Völker zu zerstören. Das ist Völkermord», schreibt die Indigene Schriftstellerin Lee Maracle. Im April 2022 entschuldigte sich Papst Franziskus bei den Indigenen Kanadas für den Missbrauch der katholischen Kirche.

Herantasten an Herkunft

Wilfred Buck haut ab und kommt davon. Doch der heute 70-Jährige macht viel durch. Sein Vater bringt sich um, seine Mutter landet auf der Strasse und stirbt später im Drogenrausch, sein Grossvater und sein Onkel erhängen sich. Buck verliert seinen Halt und sich selbst, nimmt Drogen, trinkt zu viel, klaut, wohnt auf der Strasse und landet im Gefängnis.

Doch irgendwann entdeckt er seine Wurzeln. Es ist ein graduelles Herantasten an seine Herkunft als Cree, eine der über 600 First Nations, die auf dem Gebiet leben, das europäische Einwanderer «Kanada» tauften. Er lernt, was er laut der damals geltenden Gesetze nicht lernen durfte: Seine eigene Geschichte, erzählt von seinen eigenen Leuten.

Ein Mann im Batikshirt im Wald
Legende: Wilfred Buck baut eine Schwitzhütte, ein für Indigene wichtiges Ritual. Filmotor/SRF

«Als ich zum 20. mal eine Therapie machte, lernte ich eine Cree kennen. Sie vertraute mir etwas an, das mich die Welt mit anderen Augen sehen liess. Etwas, das zu uns gehört, zu uns Cree. Die Frau sagte: ‹Wenn du weiterkommen willst, kannst du nicht einfach nur ein, zwei Dinge ändern. Du musst alles ändern.› Ich beschloss, alles zu ändern. Aber mit nur sieben Jahren Schulbildung blieb mir nichts als körperliche Arbeit, um wenigstens den Mindestlohn zu verdienen.»

Buck holt seinen Collegeabschluss nach, studiert Pädagogik und ist heute einer breiten Öffentlichkeit als «the star man» bekannt. Er verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse der westlichen Welt mit den Erzählungen seiner Vorfahren. Dank seines jovialen Geistes und seines Humors erreicht er Jugendliche an einem Indigenen «Sundance» genauso wie Studierende an den Unis.

Darum geht es beim «Sundance»

Box aufklappen Box zuklappen

Ein «Sundance» (auf Deutsch oft «Sonnentanz») ist eine heilige Zeremonie vieler indigener Völker Nordamerikas, vor allem der Plains-Stämme wie Lakota, Cree oder Blackfoot. Sie findet traditionell im Sommer statt und dient der spirituellen Erneuerung, Heilung und Stärkung der Gemeinschaft.

Der Sundance war lange Zeit von der kanadischen und US-Regierung verboten, wird aber heute wieder praktiziert und gilt als eine der wichtigsten spirituellen Traditionen der Plains-Kulturen.

Hoffnung auf bessere Zukunft

Seine Geschichte ist eine von vielen. Kanada, das sich gerne als weltoffene Nation darstellt, habe im Umgang mit jenen Menschen, die vor der Kolonialisierung bereits vor Ort lebten, ein Problem, sagt Lee Maracle. «Die Weissen denken, sie wären nett, aber in Wahrheit hassen sie es, das Land mit uns zu teilen», brachte sie es im Buch «My Conversations With Canadians» auf den Punkt.

Eine Dekolonisierung müsse geschehen, betont Maracle immer wieder. Doch das würde heissen, dass «die Weissen» in den Spiegel schauten und sich ihrer Taten bewusst würden.

Buck meint, es bestehe Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Er setzt auf die wiedererwachte Gemeinschaft: «Der kraftvollste Weg ist der spirituelle Weg. Unser Wissen war nicht weg, es schlief nur. Wir müssen die Kraft haben, es wieder zum Leben zu erwecken.»

SRF1, Sternstunde Religion, 5.10.2025, 10:05 Uhr

Meistgelesene Artikel