Claudia Keller war Ende 30, als sie zum ersten Mal dachte: Diese Familie gehört aufgelöst. Der Vater hatte sich mit dem mittleren Sohn überworfen, nachdem er ihn jahrelang privilegiert hatte. Der Streit drehte sich um ein Stück Land und einen Schuldbrief. Angeheizt wurde er von den anderen Geschwistern.
«Es war ein richtiges Kesseltreiben», erinnert sich Claudia Keller, die in Wirklichkeit anders heisst. «Vor allem meine Schwestern machten beim Vater Stimmung gegen den Bruder, sagten, er lasse sich von ihm über den Tisch ziehen.»
Das grosse Schweigen
Das Ganze endete vor Gericht – und Vater und Sohn sprachen nie mehr miteinander. Zehn Jahre später waren beide tot, und der Streit ums Erbe liess die familiäre Kulisse kollabieren.
Das ist die Geschichte einer Bauernfamilie aus dem Kanton Zug, die wegen ihres Landbesitzes zu viel Geld kam. Der Streit um den Nachlass zerriss die Familie. Doch die darunter liegenden Konflikte reichen viel weiter zurück.
Liebesheirat und Zweckbündnis
Da waren der Vater und seine acht Kinder aus zwei Ehen. Die geliebte erste Frau war bei der Geburt des dritten Kindes gestorben. Kaum ein Jahr später wurde die Ehe mit Claudia Kellers Mutter arrangiert, denn der Hof brauchte eine Frau.
Es sei keine Liebesheirat gewesen, meint Claudia Keller, aber ihre Eltern hätten funktioniert: «Sie schauten nach vorne, haben den Hof bewirtschaftet und weitere Kinder bekommen. Nur das Emotionale blieb dabei halt auf der Strecke.»
Ausbruch einer Wütenden
Claudia Keller war das letzte der acht Kinder, sie hatte zwei Brüder und fünf Schwestern. Und sie galt von klein auf als schwierig: Ihre kindliche Eifersucht auf die nächstältere Schwester wurde ihr immer wieder vorgehalten.
Die Rolle der Wütenden wurde Claudia Keller nicht mehr los. Sie litt unter der Zuschreibung, auch als Erwachsene. Sie heiratete früh und bekam eine Tochter. Immer wieder hatte sie psychische Probleme, mehrmals war sie in einer Klinik. In einer Therapie begann sie, sich mit der Familie und der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.
Festgefrorene Rollen
Gabrielle Rütschi kennt das gallige Gefühl von Geschwisterneid aus ihrer Praxis. Die Psychologin und Familientherapeutin hat das Buch «Erben – Büchse der Pandora» zum Thema geschrieben. Neid sei ein Treiber von Erbstreitigkeiten und komme oft aus der Dynamik der Geschwisterbeziehungen, erklärt sie.
«Wer in der Familie welche Rolle hat, wird früh festgeschrieben», so Rütschi. «Aber wie sich der oder die Einzelne fühlt in dem Gefüge, das wird kaum mehr angesprochen; unter den erwachsenen Kindern sowieso nicht.»
Wenn es dann Jahrzehnte später ums Erbe geht, explodiere es, weil die Eltern, die alles zusammenhielten, nicht mehr da sind.
Auch in Claudia Kellers Familie hatte sich einiges im Untergrund angesammelt. Das geschwisterliche Kesseltreiben gegen den Bruder, der doch mal Vaters engster Vertrauter gewesen war, beobachtete sie aus der Ferne. Obwohl Claudia Keller weiterhin im Ort wohnte, wie die meisten der Geschwister. Denn der Vater verfügte über diverse Grundstücke und Häuser, die die erwachsenen Kinder übernehmen konnten.
Sogar der verstossene mittlere Sohn blieb im Ort, in Sichtweite zu den anderen. Dass man einander andauernd begegnen konnte, scheint nicht gross gestört zu haben. Viel miteinander gesprochen hatte man sowieso nie in dieser Familie.
Tragischer Doppeltod
Das grosse Schweigen hielt auch an, als der Vater 2010 im Sterben lag. Claudia Keller hatte als einzige der Familie noch Kontakt zum mittleren Bruder und dessen Ehefrau. «Der Vater starb an einem Samstag im Juni», erinnert sie sich, «wir Geschwister trafen uns tags darauf, um die Beerdigung zu besprechen – natürlich ohne den mittleren Bruder».
Als sie nach Hause kam, rief ihre Schwägerin an. Sie sagte, etwas Schreckliches sei passiert. Der Bruder war mit dem Velo verunglückt. Ein Lastwagen hatte ihn frontal erfasst, er sei sofort tot gewesen. Er starb einen Tag nach seinem Vater, der um die Ecke wohnte und mit dem er seit zehn Jahren kein Wort gewechselt hatte.
Der Anfang vom Ende
Als es darum ging, den Nachlass aufzuteilen, konnten sich die Geschwister nicht einigen. Der Besitz diese Zuger Bauernfamilie war über Generationen gewachsen und zerstückelt. All die Landparzellen und Gebäude mussten jetzt verteilt werden. Wer sollte was bekommen – und was waren die einzelnen Häuser und Grundstücke wert?
Besonders heftig war der Streit zwischen Claudia Keller und der nächstälteren Schwester. Die Schwester wollte den elterlichen Hof haben, und die Meinungen darüber, inwieweit sie die anderen Geschwister dafür entschädigen müsse, gingen weit auseinander.
Heilsamer Schlussstrich
Irgendwann nahm sich Claudia Keller einen Anwalt. Sie war die einzige der Geschwister, die die Erbteilung juristisch vorantrieb. Nach drei Jahren erreichte sie, dass der Nachlass verkauft wurde. Der Erlös, ein zweistelliger Millionenbetrag, wurde unter den Erben aufgeteilt.
Wir leiden an der fixen Idee, dass man es gut haben müsse in der Familie.
Die Psychologin Gabrielle Rütschi nennt das einen «heilsamen Tabu-Bruch»: nach langer Auseinandersetzung zum Schluss zu kommen, dass man sich von der Herkunftsfamilie separieren möchte, auch juristisch. «Es ist wie einen Punkt zu machen, weil man mit diesen Menschen nichts mehr zu tun haben möchte.»
Eine Familie sei ein Konstrukt und eine Illusion, meint die Therapeutin: «Wir leiden vor allem an der fixen Idee, dass wir es gut haben müssten innerhalb der Familie, einander nah sein müssten. Klar wäre das schön. Aber es funktioniert oft nicht. Und beim Erben zeigt sich das.»
Claudia Keller sieht es ähnlich. Für sie war die Herkunftsfamilie je länger je mehr zur Zwangsgemeinschaft geworden. Der Bruch war die logische Folge und der letzte Akt der Loslösung.
Der Bruch als Aufbruch
Die erbrechtliche Auseinandersetzung ist zehn Jahre her. Seither hat Claudia Keller keinen Kontakt mehr zu ihren Geschwistern; die Mutter ist vor einigen Jahren gestorben.
Den Bruch mit der Familie hat die heute 59-Jährige nie bereut, im Gegenteil: «Es fühlt sich sogar viel besser an als ich gedacht hatte. Ich lebe heute in einer völlig anderen Welt.» Wenngleich sich rein räumlich nicht viel geändert hat: Claudia Keller lebt immer noch im gleichen Ort – wie vier Schwestern, diverse Nichten und Neffen sowie ihre Schwägerin, die Witwe des verstorbenen Bruders. Alle in Sichtweite.