Zum jüdischen Neujahrsfest - So steht es um das Judentum in der Schweiz
Das neue jüdische Jahr 5784 beginnt verhalten optimistisch: Kleine Gemeinden verschwinden, doch in den Ballungszentren besteht eine lebendige jüdische Kultur – trotz Säkularisierung, Überalterung und Finanzsorgen.
Die Zahl jüdischer Menschen in der Schweiz ist mit rund 18'000 Personen stabil niedrig – ihre Gemeindelandschaft jedoch verschiebt sich historisch: Das jüdische Leben ballt sich zunehmend in Zürich und Genf.
Von den jüdischen Landgemeinden der Schweiz ist fast nichts mehr übrig, Kleingemeinden serbeln. So erscheinen die ehemaligen «Judendörfer» Endingen und Lengnau AG heute als eine Art Freilicht-Museum.
Jüdischer Kulturweg Endingen-Lengnau
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Ausgangspunkt des «Jüdischen Kulturweges» ist entweder das Dorfzentrum Endingen oder Lengnau. Er führt zu geschichtlichen Stätten und Objekten, etwa Synagogen, rituellen Tauchbädern (Mikwen), Schulhäusern, Wohnhäusern mit zweiteiligen Eingängen (Juden/Christen) und zum jüdischen Friedhof.
Ein weiteres Beispiel ist die jüdische Gemeinde St. Gallen: Sie zählte einst über 1000 Seelen – heute steht sie mit 120 Mitgliedern auf der Kippe, ist überaltert.
Berufstägige mit Familien wandern aus oder in Ballungszentren ab. In Zürich und Genf locken Jobs und ein attraktives Angebot jüdischen Lebens: von ultra-liberal bis ultra-orthodox.
Viel jüdische Kultur bietet auch Basel, obwohl die orthodox geführte Einheitsgemeinde Israelitische Gemeinde Basel (IGB) in den letzten Jahrzehnten fast um die Hälfte geschrumpft ist. Sie zählt heute noch rund 850 Mitglieder. In chronischer Finanznot kämpft die IGB um den Erhalt ihrer Bildungsangebote für Kinder.
Assimilation, Ab- und Auswanderung
Ähnlich den Landeskirchen kämpfen jüdische Gemeinden mit Überalterung und Säkularisierung. Bald ein Drittel der Menschen mit jüdischer Identität ist in keiner religiösen Gemeinde Mitglied.
Jede zweite jüdische Person in der Schweiz heiratet eine nichtjüdische Person. Das ist seit Jahrzehnten ein Trend, der sich auswirkt: Viele gemischt-religiöse Familien geben das Judentum kaum mehr an ihre Kinder und Kindeskinder weiter.
Selbst die Mehrheit derer, die noch Mitglied sind in einer orthodox geführten Gemeinde, lebt säkular. Diese Mehrheit finanzierte die Gemeinden lange solidarisch mit. Doch bei den wenig bis gar nicht Religiösen sinkt die Bereitschaft, hohe Beiträge zu zahlen: zum Beispiel für eine koschere Infrastruktur, die sie selbst nicht brauchen, wie etwa einen teuren Platz auf dem jüdischen Friedhof.
Es gibt zwar Zuzug aus dem Ausland, aber der wiegt den Mitgliederschwund nicht auf. Denn: Längst nicht alle Zugewanderten aus Amerika oder Israel schliessen sich einer Schweizer jüdischen Gemeinde an.
Viel Engagement für jüdische Kultur
In Relation zur kleinen Zahl jüdischer Schweizerinnen und Schweizer ist das jüdische Kultur-Angebot hierzulande enorm. Etabliert sind beispielsweise: der Europäische Tag der jüdischen Kultur, das Musikfestival Mizmorim, Literatur- und Filmtage, der Jüdische Kulturweg im Aargau, Jüdische Studien an Universitäten und ETH oder das Wochenmagazin «tachles». Das Jüdische Museum der Schweiz in Basel expandiert sogar – es zieht in ein neues, grösseres Haus, welches mehr Platz bietet.
Den jüdischen Verbandspräsidenten Ralph Lewin vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) freut das Angebot. Er betont aber gegenüber SRF, dass diese Vielfalt jüdischer Kultur in der Schweiz wesentlich vom Engagement der jüdischen Gemeinden abhänge.
Das Gemeindesterben auf dem Land und in kleinen Städten bedeutet also auch ein Minus an schweizerisch-jüdischer Kulturvielfalt. So dürften von den Gemeinden in Biel, St. Gallen oder Baden bald nur noch die hübschen Synagogen zeugen.
Kleine Geschichte der Jüdischen Schweiz
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4. Jahrhundert:
Ältestes Zeugnis jüdischer Präsenz
: Antiker Goldring mit Menora, gefunden in Augusta Raurica; mit den Römern dürften schon früher jüdische Menschen hierhergekommen sein.
Beginn 13. Jahrhundert:
Mittelalterliche jüdische Gemeinden
sind an vielen Schweizer Orten belegt
1491: Pogrome und Ende jüdischer Gemeinden:
Ausweisung
aller jüdischen Personen aus dem Gebiet der Eidgenossenschaft
17. - 18. Jahrhundert: Jüdische Familien dürfen sich allein in den
Surbtaler Judendörfern» Endingen und Lengnau AG
dauerhaft niederlassen
1848: Die moderne Bundesverfassung der Schweiz gewährt Juden
keine generelle Niederlassungsfreiheit
1866:
Niederlassungsfreiheit
und Gleichstellung für Juden in der Schweiz. 1874 folgt die
Religions- und Kultusfreiheit
für Juden in der Eidgenossenschaft
Ab Ende 19. Jahrhundert:
Jüdische Studierende aus dem Ausland
an der Universität Zürich
1917:
Erster jüdischer Nationalrat Maurice Goetschel
(FDP)
Holoaust / Shoah
und 2. Weltkrieg: Belastungsprobe für jüdische Gemeinden und Gemeindebund, starkes Engagement des Verbands Schweizerischer Jüdischer Flüchtlingshilfe VSFJ.
1966:
Das jüdische Museum der Schweiz
öffnet in Basel als Privatmuseum, das erste jüdische Museum im deutschsprachigen Raum
1994:
Antirassismus-Strafnorm
1996: Der Bundesrat setzt eine unabhängige Expertenkommission ein, die 2002 den
«Bergier-Bericht»
über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg veröffentlicht
1999:
Ruth Dreyfus wird als erste Frau und erste Jüdin Schweizer Bundespräsidentin
2019: Bundesrat beschliesst, dass der Staat den
Schutz jüdischer Einrichtungen
wie Synagogen (Security) zu gewährleisten und mitzufinanzieren hat
2023: Bundesrat beschliesst eine
nationale Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus
und des Holocausts zu errichten
Heute:
Rund 18'000 Jüdinnen und Juden leben in der Schweiz
, 13'000 vertritt der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG.
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Radio SRF 2 Kultur, Perspektiven, 17.09.2023, 8:30 Uhr
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