Der 24. Februar 2022 wird in die Geschichte eingehen. Es ist der Tag, an dem die Truppen des grössten Landes der Welt in das grösste Land Europas einmarschieren.
Es ist auch der Tag, der nicht nur immenses Leid über Millionen von Menschen bringt, sondern auch das «post-historische Paradies» Europa, wie es der US-amerikanische Polit-Analyst Robert Kagan einst genannt hatte, in seinen Grundfesten erschüttert.
«Zeitenwende mit Ansage»
«Es ist eine Zeitenwende, aber eine mit Ansage. Waldimir Putin verfolgt schon lange eine ausgreifende neo-imperiale Politik», sagt Politikwissenschaftlerin Gerlinde Groitl. Militärische Gewalt ist dabei ein Mittel zur Interessensdurchsetzung.
Das stimme, pflichtet Historiker Jeronim Perović bei: «Denken wir nur an seine 2001 auf Deutsch gehaltene Rede vor dem deutschen Bundestag, als er die völkerverbindende Kultur lobte, Immanuel Kant zitierte, und gleichzeitig in Tschetschenien Krieg führte.»
Wo bleibt die Moral?
Dies war ein Krieg, der innerhalb russischer Grenzen geführt wurde, es war also kein zwischenstaatlicher Konflikt. Im aktuellen Fall überfiel allerdings ein Land das andere: nämlich Russland die Ukraine. Das ist gemäss UN-Charta seit 1945 verboten.
Das angegriffene Land hat das Recht, sich zu verteidigen – allein oder kollektiv, also durch Hilfe anderer Staaten. Doch müsse man sich fragen, so die Philosophin Véronique Zanetti, ob es klug sei, einzugreifen, wenn der angreifende Staat über Atomwaffen verfügt.
Falls man sich entscheide, Waffen zu liefern, müsse man sich noch eine andere Frage stellen: «Ist es klug, einem Land Waffen zu liefern, wenn es militärisch keine Chance hat, sich zu verteidigen. Wenn am Ende Millionen von Menschen auf der Flucht sind, Tausende von Toten zu beklagen sind und die Infrastruktur zerstört ist, was ist dann die Freiheit wert?»
Die Verwestlichung Europas
Bleibt also die Moral auf der Strecke, wenn sie nicht von Macht unterfüttert wird? Putin fühlt sich von den Idealen des Westens bedroht, von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, und vom Recht des Menschen auf freie Entfaltung.
Es sind jene Werte, die sich in vielen internationalen Verträgen wiederfinden. So beispielsweise in der auch von der damaligen Sowjetunion unterzeichneten Charta von Paris zur Einstellung der Ost-West-Konfrontation.
«Wir im Westen gehen davon aus, dass die Rechte des Individuums zentral für die Verfasstheit des Staates sind. Staaten, die diese Entfaltungsmöglichkeiten bieten, sind gute Staaten», sagt Véronique Zanetti. Doch diese Idee stehe in Konkurrenz zu einer anderen: dass nämlich der Staat der zentrale Akteur sei.
Gute Staaten, schlechte Staaten
«In Russland repräsentiert der Staat nicht gesellschaftliche Interessen», ergänzt Jeronim Perović: «Er ist dazu da, die Gesellschaft zu lenken und in die richtige Richtung zu führen.» So denke nicht nur Putin, sondern viele im Kreml. Und sie werden dabei von einigen Russinnen und Russen unterstützt.
Heute will die russische Führung der Ukraine und dem Westen ihren Willen aufzwingen. Putin will verhandeln, aber zu Bedingungen, die nicht erfüllbar seien, so Groitl: «Für die Ukraine fordert Moskau eine ‹Demilitarisierung› und den Sturz der gewählten demokratischen Regierung. Die russische Seite bezeichnet das als ‹Denazifizierung›. Es wäre das Ende der Ukraine als selbst bestimmter Staat.»
«Vom Westen verlangte Moskau vor der Invasion den Rückzug der NATO-Infrastruktur auf den Stand von 1997. Also auf den Stand vor der ersten Erweiterungsrunde des Bündnisses. Das ist unmöglich. So würde sich die NATO selber abschaffen.»
Und so sieht es stark danach aus, dass sich die Welt nach Jahrzehnten der Verflechtung, entflechten und Machtpolitik wieder eine grössere Rolle spielen wird.